In meiner Kindheit ist der Sommer für mich immer die schönste Jahreszeit gewesen. Es war die Zeit des »Nurdraußenseins« bei Regen, Wind und Sonnenschein – in der Natur, auf meiner Straße und im Garten der Großmutter. Barfuss gehen, sich treiben lassen, Ameisenstraßen beobachten, mit Murmeln spielen, auf Treppen sitzen, Schatten verfolgen und abschütteln, Marienkäfer sammeln, »Ball an die Wand« spielen, Freunde finden, träumen, Langeweile genießen, Rollschuh laufen, Buden bauen, Hopse spielen, Grashalmmusik machen, den Schwalben zuhören und den Wolken zuschauen.
Wolkentheater
Wolken haben mich besonders fasziniert und begeistert. Wenn uns keine Spiele mehr einfielen, legten wir uns auf die Wiese und schauten nur in den Himmel. Wer kennt sie nicht, die Wolkenformen und Wolkengebilde, die sich von einem Augenblick zum nächsten verschieben wie Wirbel im Wasser, immer neu entstehen und sich verflüchtigen, kommen und wieder verschwinden, sich ausdehnen und zerreißen, sich ballen und zerfetzen. Jede Wolke ist eine kleine Welt aus Dampf, die keine Spur hinterlässt. Niemand kann dieselben Wolken zwei Mal sehen.
Wir liebten besonders diese Sommerwolken, die sich vor unseren Augen in der Ferne auftürmten und deren Schatten langsam über die Felder und Wege zogen. Wolkentheater regten unsere Fantasie an. Ich dachte mir mit meiner Freundin Szenen aus, in denen es um Kampf, Gewinner, Fliehende, Gefressenwerden und Verschwinden ging. Welch Spektakel, welch Freizeitfreude! Ein Drama oder ein Lustluftspiel durchzog die Himmelsbühne. Wolkenbahnen und Wolkenstraßen taten sich auf.
Straßenwolken nannten wir die kleinen weißen, die wie stachlige Säulen aussehen – eine Himmelsformation, die besondere Windbedingungen braucht. Das konnte einige Minuten dauern.
Es ist tatsächlich wahr, dass Menschen im 17. Jahrhundert eine Wolkenmaschine bauten, um in der Oper das Reich der Götter und die theatralische Vorstellung vom Himmel zu verdeutlichen. Es war eine Bühnenkonstruktion mit Hebelarmen, Seilen, Flaschenzügen und bemalten Rollen mit Cumuluswolken. Ich finde diese Idee sehr lustig und werde meinem Enkelkind davon berichten. Vielleicht erfindet es auch eine Wolkenmaschine.
Wolkensprache und Windkunde
Unter den Wolken gab es blumenkohlartige Gipfel, beutelförmige Auswüchse, Schiffsegel und Wolkenbäuche. Wir erfanden eine Wolkensprache. Musterwolken waren die gleichmäßig getupften, Schleierwolken die verschwommenen, Federwolken die gefiederten. Dann gab es noch die grauen, rosa-lila-farbenen und schwarzen, die sonnendurchfluteten, die geschichteten, die milchigen, elektrische und dünne, besige und knollige.
Gleichzeitig betrieben wir Windkunde. Winde konnte man auch unterscheiden, und das hatte Auswirkungen auf die Wolken. Waren die Wolken auf der Unterseite flach oder wellig wie vor einem Gewitter? Es war zu spüren, wie sich der Wind verhielt, wie die Wolken zogen, ob sie ganz hoch flogen oder tief lagen, schwer oder leicht aussahen und welche Art von Regen sie brachten.
Ich erinnere mich daran, das wir als Kinder genau wussten, wie lange es brauchte, bis die Gewitterwolke sich ergoss und wir Unterschlupf suchen mussten. Wir spürten es in der Luft, am Wind, sahen es an den Farben der Wolken und ihrer Form. Was meine Mutter als unnütze Tagträumerei bezeichnete, brachte mir nützliche Erkenntnisse.
Glückliche Kindheitsmomente
Wenn der Regen nachließ, ergötzten wir uns an dem tollen Gefühl des Matschs zwischen unseren Zehen, verfolgten die Regenbäche im Rinnstein oder in den Furchen des Weges, die Blätter, Stöckchen und Gräser mit sich führten, leiteten die kleinen Flüsse um und testeten die Tiefe der Pfützen, die sich wohlig warm anfühlten und in denen sich die abziehenden Wolken spiegelten. Wir bemerkten auch, dass die Pfütze irgendwann verschwand. Wohin nur? Zu den Regenwürmern natürlich, denn die kamen nach dem Regen zuhauf aus der Erde gekrochen. Willkommene Forscherobjekte. Wie lang lässt sich so ein Würmchen ziehen? Und wenn man es durchteilt, leben dann beide Teile tatsächlich weiter?
Plätze zum Spielen, Verweilen, Erfinden, Experimentieren und Bewegen, Orte ohne eingreifende und belehrende Erwachsene, glückliche Kindheitsmomente, die sich bis heute eingeprägt haben.
Über den Wolken
Wir machten uns auch Gedanken, wie sich Wolken anfühlen könnten. Wie wäre es, mitten in ihnen zu sitzen, zu kuscheln, mit ihnen davonzufliegen? Wer wohnt in den Wolken? Engel, der Donner, die Urgroßmutter? Was passiert, wenn ein Flugzeug mit den Wolken zusammenstößt? In meiner späteren Kindheit durchbrachen Düsenjäger die Schallmauer, und vor diesem Knall hatte ich immer Angst. Es waren die Zeiten des Kalten Krieges.
Heute fliege ich über den Wolken, die Welt wird ganz klein. Ich staune, wundere mich, lasse mich faszinieren von den Wolken und bin ihnen wieder ein Stück näher gekommen.
Dagmar Arzenbacher