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Anforderungssensibilität als Grundlage kollegialer Unterstützung
Im Team zu arbeiten ist eine große Ressource – und gleichzeitig kein Selbstläufer. Wie kann es gelingen, sich im Miteinander emotional sicher zu fühlen, es als Ressource für die pädagogische Arbeit zu nutzen? Welche Strategien sind hilfreichen, um sich untereinander zu unterstützen? Die Pädagoginnen Kira Daldrop und Jennifer Burkhardt plädieren dafür, dem eigenen Anforderungserleben und der individuellen Überforderungsschwelle auf die Spur zu kommen und dieses Wissen als Kompass zu nutzen.
Aufeinander abgestimmt oder aneinander vorbei?
»Wo ist eigentlich Bettina schon wieder hin? Gerade jetzt brauchen wir jede Hand in der Garderobe, das weiß sie doch und lässt mich trotzdem hier allein«, schießt es dem Pädagogen Nico entnervt durch den Kopf. Bettina kommt durch die Tür, atmet einmal tief ein und aus und sucht Nicos Blick, der aber nur auf das Kind vor ihm schaut und sie ignoriert, während um ihn herum die anderen Kinder durcheinanderlaufen. Am liebsten würde sich Bettina gleich wieder umdrehen und die Garderobe verlassen.
Solche Momente der Unstimmigkeit, der unausgesprochenen, aber doch spürbaren Irritation, während man gleichzeitig für die Kinder voll präsent sein muss, kennen viele Fachkräfte. Der pädagogische Alltag ist gekennzeichnet von vielen und intensiven Interaktionen und vielen Anforderungen. Nur verständlich, dass es auch den Erwachsenen zu viel werden kann. Stress- und Belastungsreaktionen, erschwerte Kommunikation untereinander, wenig Zeit für Absprachen im Team, Frustration, Resignation und evtl. auch eine hohe Fluktuation im Team können die Auswirkungen von ständiger Überforderung und Unsicherheiten sein. Auch das Risiko für Fehlverhalten gegenüber den Kindern ist erhöht, denn das Team und die Zusammenarbeit ist dafür ein wichtiger Einflussfaktor.1
Die Abstimmung untereinander im Team, die als ein Teil der sogenannten professionellen Responsivität zu sehen ist, ist von entscheidender Bedeutung für die pädagogische Arbeit. Diese Interaktionskompetenzen pädagogischer Fachkräfte umfassen das aufmerksame Wahrnehmen und die Bemühungen, passend zu reagieren. Dies gilt sowohl gegenüber den Kindern als auch gegenüber deren Familien und ebenso im Team. Immer ist entscheidend, wie gut es gelingt, sich auf Grundlage der Signale auf das Gegenüber abzustimmen. Daneben hat die Qualität im pädagogischen Team eine hohe Bedeutung für das Wohlbefinden und die Arbeitsfähigkeit der Teammitglieder.3 Die täglichen Abstimmungsprozesse und die gemeinsame Fürsorgearbeit brauchen eine gemeinsame Grundlage der Arbeit im Team: das haltende Miteinander, das die beteiligten Menschen wie ein Rahmen umgibt. Wie soll dieser Rahmen aussehen? Wie behält er seine Stabilität auch in turbulenten Situationen? Was müssen wir dafür voneinander wissen – und was gemeinsam festlegen?
Anforderungssensibilität für ein haltendes Miteinander
Die Anforderungen an die pädagogischen Fachkräfte in ihrem Berufsalltag sind hoch. Wir alle greifen auf vielfältige Strategien zurück, um mit ihnen umzugehen. Der Blick auf die Anforderungen, z.B. durch Rahmenbedingungen und die tägliche Teamarbeit, macht auch mögliche Überforderungen sichtbar: Jede:r hat individuelle Überforderungsschwellen, die von vielen Faktoren beeinflusst werden. Die Grundbedürfnisse spielen dabei eine wichtige Rolle, aber auch die Wahrnehmung und Verarbeitung von Reizen oder die Menge der Anforderungen und die Art der Bewältigungsstrategien. Es braucht Aufmerksamkeit und ein Augenmerk auf das jeweilige Handlungsrepertoire, um sich selbst und die Kolleg:innen in schwierigen Situationen noch besser kennenzulernen und das gemeinsame Arbeiten als Unterstützung zu nutzen. Das Verstehenwollen ist eine Säule des haltenden Miteinanders – genau wie die Annahme, dass die Menschen im Team das für sie Bestmögliche tun. Daran müssen wir v.a. denken, wenn wir bestimmte Verhaltensweisen nicht auf Anhieb einordnen können.
Anforderungssensibilität sich selbst und den Kolleg:innen gegenüber
Anforderungssensibilität ist ein von uns entwickelter, umfassender Ansatz für die konkrete pädagogische Arbeit sowohl mit Kindern also auch für die Zusammenarbeit mit Familien und im Team sowie zur Selbstreflexion. Anforderungen können beschrieben werden als eine Erwartung oder Forderung an die Handlungskompetenz einer Person. Sie können durch Situationen und Kontexte, durch andere Personen, aber auch durch innerpsychische und physiologische Zustände entstehen. Gibt es ein Ungleichgewicht zwischen den Anforderungen und den Handlungsmöglichkeiten einer Person, zeigt sich dies in einer Unter- oder auch Überforderung und in Stress- und Belastungsreaktionen. Besteht dieses Ungleichgewicht über einen längeren Zeitraum und ohne die Möglichkeiten der Änderung, z.B. durch Anpassung der Situation oder eine hilfreiche Begleitung und Erweiterung der Handlungskompetenzen, kann sich das negativ auf die Gesundheit oder auf die Reaktionen gegenüber den Kindern und die Ausübung der professionellen Arbeit auswirken.5
Anforderungssensibel zu sein bedeutet, Anforderungen sowie daraus entstehende Handlungsoptionen im Kontext der jeweiligen Situation und aus der individuellen Perspektive einer Person zu beachten. Es geht um die Stärkung der Steuerungs- und Bewältigungskompetenz und um die Reduzierung von Überforderungssituationen. Sensibel für Anforderungen zu sein, erkennt im Grundsatz an, dass jede Person Anforderungen unterschiedlich wahrnimmt, empfindet und im Rahmen ihrer Möglichkeiten bewältigt. Die sichtbaren Reaktionen eines Menschen sind beeinflusst von der konkreten Situation, von den eigenen Erfahrungen und dem Wirksamkeitserleben der eigenen Strategien, also einer Rückmeldung durch die soziale Umwelt. Anforderungssensibilität eröffnet so neue Perspektiven, wie ein gezieltes Wahrnehmen, Einordnen und Bewerten von Anforderungen unter den Aspekten von Belastung oder positiver Herausforderung gelingen kann.
Kira Daldrop, Erziehungswissenschaftlerin M.A., und Jennifer Burkhardt, Sozialpädagogin B.A., leiten das von ihnen gegründete InFanT Institut. Sie bilden pädagogische Fachkräfte zu vielfältigen Themen rund um responsive Beratung, Neurodivergenz- und Anforderungssensible Pädagogik und Regulation aus und weiter.
Kontakt
www.infant-institut.de
1 Vgl. Maywald J. (2019): Gewalt durch pädagogische Fachkräfte verhindern. Freiburg im Breisgau, S. 20
3 Wertfein M. et al. (2013): Die Bedeutung des Teams für die Interaktionsqualität in Kinderkrippen. In: Frühe Bildung 1/2
5 Nürnberg C. (2018): Kita-Alltag zwischen Belastung und Erfüllung. Ergebnisse einer explorativen Interviewstudie mit Gruppenkräften und Kita-Leitungen. Eine Studie der Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF). München: Deutsches Jugendinstitut