Kindheit macht den Unterschied
Kindheit ist eine Erfindung, oder besser: eine Konstruktion. Obwohl dies allseits bekannt ist, ist die Auswirkung dieser Einsicht enorm. Der vorliegende Beitrag von Søs Bayer versucht, die Grundlinien der Entstehung und Durchsetzung des Konzepts der Kindheit in der westlichen Gesellschaft allgemein, und in Dänemark im speziellen, nachzuzeichnen.
Philippe Ariès (1973–1982) ist der Historiker, der zuerst von der Erfindung der Kindheit sprach. Seiner Aussage nach ist sie ein Konzept, das im 12. Jahrhundert eingeführt wurde und sich erst im 16. Jahrhundert vollends durchsetzte. In der alten traditionellen Gesellschaft, wie Ariès sie nennt, war die Dauer der Kindheit enorm verkürzt und beschränkt: »Man sollte eher annehmen, dass in jener Welt kein Platz für die Kindheit war.« Sie bestand nur für die ersten, zarten Lebensjahre, »wo das kleine Wesen nicht ohne fremde Hilfe auskommen kann«. Ariès nennt diese Zeit »Hätschelperiode«, da den Kindern häufig nur oberflächliche Gefühlszuwendungen zugesprochen und mit ihnen eher wie mit »ungesitteten Äffchen« umgegangen wurde. Überlebten sie diese Phase (viele taten es nicht), und konnten sich auch physisch zurechtfinden, beteiligten sie sich am Leben der Erwachsenen (und den zu solchen gemachten Kindern) in Spiel und Arbeit. Es gab keine Zeit der Jugend. Die kleinen Wesen zählten entweder zu der recht anonymen Gruppe der Kleinkinder oder der Gruppe der jungen Erwachsenen. Damals war die Familie – als gesellschaftliche Institution – sehr verschieden von dem Begriff, den wir heutzutage von ihr haben. Insbesondere unsere Vorstellungen von dem, was wir heute bürgerliche oder Kernfamilie nennen, waren sehr verschieden: Die Familie war eine Großfamilie im erweiterten Sinn: zu ihr gehörten Vater, Mutter, Geschwister, Onkel, Tanten, Großmutter und Großvater, weitere entfernte Verwandte und auch die Angestellten. Die Großfamilie führte das Kind in die Kultur, ihre Werte und ihr Wissen ein. Kindheit war eine Art Lehrverhältnis, das von der eigenen oder einer fremden Großfamilie gewährleistet und kontrolliert wurde. So war es nicht unüblich, dass Kinder in einem sehr jungen Alter an andere Großfamilien weggegeben wurden und fortan mit diesen lebten.
Nach Ariès gibt es zwei Ursachen, die eine Veränderung der Kindheitsverhältnisse begründeten und der Kindheit ihren modernen Platz und ihre neue Gewichtung verliehen. Der erste Punkt ist, dass die Schule das alte Lehrverhältnis ersetzte. Dies bedeutete, dass die Kinder nicht mehr mit und in den Großfamilien lernten, spielten und arbeiteten, sondern nun planmäßig in speziellen Institutionen gefangen, eingesperrt und erzogen wurden – ganz ähnlich wie die Armen, die Verrückten, die Kriminellen et cetera: zuerst in Kollegs und Internatsschulen und später in Tageseinrichtungen. Diese Veränderung war natürlich ursächlich auf Umwälzungen innerhalb der Gesellschaft (einer Gesellschaft auf dem Weg zur Industrialisierung und Kapitalismus) begründet. Kindheit kann unter diesen Gesichtspunkten als eine Zeit der Quarantäne betrachten werden, denn das Kind wurde vom normalen Vollzug des Lebens, bestehend aus Spiel und (ein wenig) Arbeit, ausgeschlossen.
Der zweite Punkt ist, dass dieser Prozess der Einführung der Schule (im wörtlichen Sinne also eine »Verschulung«) nicht auch ohne Veränderungen in den Familien einherging. Die Familie wurde durch die Umwälzungen in der Gesellschaft eine zahlenmäßig kleinere Institution, die nunmehr als Kleinfamilie zum Ort von Pflege und Zuneigung wurde. Die Familienmitglieder kümmerten sich um- einander, im Speziellen die Mütter um ihre Kinder. Zuneigung, Hingabe und Pflege wurden das neue Band, das die Familie zusammenhielt und in einem völlig neuen Maße gegenseitige Emotionen ermöglichte.
Die aufkommenden Veränderungen lassen sich unter drei signifikanten Merkmalen zusammenfassen: Trennung, Zeit und Macht. Alle drei haben enorme Auswirkungen auf das, was Kindheit bedeutet und sind letztendlich Konsequenz einer kapitalistisch wirtschaftenden Gesellschaft. Die Trennung der Familie von dem Kind wäre als erste schon beschriebene Auswirkung zu nennen. Sie bleibt aber nicht die einzige: Die Trennung von Spiel und Arbeit folgt ihr ebenso wie die in Frei- und Arbeitszeit. Die Zeit wird zu einer maßgeblichen Kategorie. Das Konzept eines Kreislaufs der Zeiten wird ersetzt durch das lineares Modell der Zeit, das als lange Aneinanderreihung von Momenten und abzählbaren Sekunden nur eine Richtung kennt: Vorwärts. Die lineare (Ein-)Teilung der Zeit hat die größten Auswirkungen auf das Kind. Sie spielt eine große Rolle bei der Integration in die Gesellschaft. Kinder werden auf die Zeit hin sozialisiert oder – wie es Michel Foucault (1976) beschreibt – diszipliniert. Zeit heißt Disziplinierung und Schulen sind eine der wichtigsten Institutionen in diesem Prozess.
Søs Bayer ist Professorin an den pädagogischen Hochschulen DPU/RUC in Kopenhagen und Aarhus, Dänemark.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe KINDER in Europa heute 01/18 lesen.