Michel Vandenbroeck betrachtet die jüngste Geschichte der Debatte über Verschiedenheit und warnt vor vereinfachenden Ideen.
Verschiedenheit – das »neue« Thema
Obwohl Verschiedenheit kein neues Phänomen ist, wird ihr doch erst seit kurzem Aufmerksamkeit in Sozialarbeit und Bildung gewidmet. Obwohl es immer Migration und neue Besiedlungen gab, wurde Verschiedenheit als soziales Thema und Bildungsthema in Europa erst in den späten 70er und 80er Jahren konstruiert. Das Auftauchen des »neuen« Themas war zu der Zeit mit gesellschaftlichen Veränderungen verknüpft. Das Ende der Kolonialzeit (oder der Anfang des Neokolonialismus, wie manche sagen) und die Verknappung von Arbeit in den reicheren Teilen Europas brachte die Nachkriegseinwanderung von den Mittelmeerländern und früheren Kolonien mit sich.
Anfangs lebten die Einwandererfamilien in abgegrenzten Gebieten. Daher wurde oft nicht registriert, dass die westeuropäischen Staaten ethnisch und kulturell verschieden waren. Die Wirtschaftskrise der späten 70er Jahre führte zu wachsender Arbeitslosigkeit und Jobunsicherheit für die Arbeiter und sorgte dafür, dass die Fabrik als Ort der sozialen Integration, der Identitätsentwicklung und der Zugehörigkeit an Bedeutung verlor. Für viele Familien bedeutete die wirtschaftliche Rezession die erste Erfahrung mit einer sozialen Abstiegsbewegung oder die Drohung damit. Gleichzeitig wurde die Rolle des Wohlfahrtsstaates in Frage gestellt: Budgetsenkungen begleiteten politische Diskussionen über »weniger Staat«, also einen Staat, in dem soziale Rechte nicht länger als selbstverständlich betrachtet wurden. Viele Menschen waren plötzlich mit wachsender Sorge um den Arbeitsplatz und sozialer Unsicherheit konfrontiert.
Die Umwandlung der Industriegesellschaft in eine Wissensgesellschaft, in der die Beschäftigung von niedrig qualifizierten Arbeitern bedroht ist, die Menschen in hoch qualifizierten Jobs im Dienstleistungssektor aber zunehmende Chancen haben, sorgte dafür, dass Bildung als Bedingung für soziale Integration immer wichtiger wurde. Menschen aus der Arbeiterklasse, die einen sozialen Abstieg erlebten, begegneten Einwanderern, die endlich mit einem sozialen Aufstieg begannen. Paradoxerweise begannen Diskussionen über die Notwendigkeit der Integration ethnischer Minderheiten erst, nachdem diese Gruppen damit anfingen sich zu integrieren.
Politisch weit rechts und multikulturell
In diesem Zusammenhang errangen zwei einander gegenüberstehende Bewegungen Popularität. Zur einen gehörten rassistische (oder extrem rechte) Gruppen und politische Parteien (z.B. Vlaams Blok in Flandern und Front National in Frankreich) die nach der Rückführung der ethnischen Minderheiten und dem Ende der Einwanderung riefen. Anfangs, in den 80er Jahren, stellten sie die Angehörigen von Minderheiten als Konkurrenten für die weniger werdenden Arbeitsplätze in der Industrie dar und behaupteten, sie würden das unsichere Wohlfahrtssystem unterminieren. Danach, und besonders nach dem 11. September, wurde dieser fremdenfeindliche Diskurs durch den Einfluss von Think Tanks der Neuen Rechten (wie GRECE in Frankreich) durch einen Diskurs erweitert, der sich für kulturelle Identität und die Anerkennung der Verschiedenheit und Vielfalt einsetzt. Diese Anerkennung der Rechte von kulturell unterschiedlichen Gruppen würde, behaupteten die Neuen Rechten, unvermeidlich zu einem Kampf der Kulturen führen – wegen der wahrgenommenen Unvereinbarkeit von muslimischen und europäischen oder christlichen »Werten« und ihrer »Kultur«. Dieser neuere Diskurs beruhte nicht so sehr auf der angenommenen Überlegenheit der »Weißen«, sondern mehr auf den Rechten der Nationen und kulturellen Gruppen, ihre kulturelle Identität zu erhalten, die in Westeuropa von den Gemeinschaften der ethnischen Minderheiten, besonders der Moslems, bedroht sein sollen.
Die zweite Richtung war ein wachsender multikultureller und interkultureller Diskurs im sozialen Bereich im Allgemeinen und auf dem Gebiet der Bildung im Besonderen. Obwohl diese ethische und politische Position diametral der Neuen Rechten gegenüberstand, waren Analyse und Konzepte doch bemerkenswert ähnlich. Die Bewegung verlangte die Anerkennung verschiedener kultureller Gruppen mit deren eigenen Normen und Werten und analysierte die Schwierigkeiten, die mit dem Dialog (oder mit kulturellen Konflikten) zwischen diesen Gruppen verbunden waren. Lehrbücher erschienen, die zum Beispiel künftigen Lehrern oder Sozialarbeitern die Unterschiede zwischen den »mediterranen« und den westeuropäischen Familienwerten erklärten. Innerhalb dieser Bewegung gab es verschiedene Konzepte für »gute Praxis«. Einige verteidigten die Integration von Kindern aus ethnischen Minderheiten durch entsprechende »Eintauch«-Programme, andere behaupteten, die Verschiedenheit sei ein Problem für die Mehrheit und entwickelten Bildungsprogramme, die alle Kinder in die Lage versetzten, zusammen zu lernen.
Vielfache Zugehörigkeit
Die Parallelen zwischen diesen beiden Bewegungen und Diskursen sind augenfällig. Beide müssen wegen ihrer gemeinsamen Thesen, zu denen ein monolithisches und statisches Konzept der kulturellen Identität, verbunden mit der ethnischen Frage, gehört, kritisch analysiert werden. Doch in den modernen Gesellschaften identifizieren sich die Menschen mit vielen verschiedenen Gruppen, von denen sie auch beeinflusst werden: von kulturellen, sprachlichen, beruflichen, religiösen, politischen und vielen anderen. Kinder wie Erwachsene konstruieren ihre kulturelle Identität auf der Grundlage ihrer vielfachen Zugehörigkeit und Loyalität zu verschiedenen Gruppen. Identitäten sind dynamisch, da die Zugehörigkeiten im Laufe eines Lebens wechseln, jedoch auch, weil Kinder sozial aktive Handelnde sind, die in den kulturellen Gruppen, zu denen sie gehören, Veränderungen bewirken. Viele Autoren haben diese Evolution dokumentiert und dabei Begriffe wie hybride (gemischte) Identität, Nomadenidentität oder multiple (vielfache) Zugehörigkeit verwendet.
Das Bildungsziel für Kindereinrichtungen ist daher nicht, die kulturelle Identität der Kinder zu hegen und zu pflegen. Es geht vielmehr darum, Brücken zu bauen zwischen den verschiedenen Kulturen der Familien und Institutionen und damit die vielfache Zugehörigkeit der Kinder zu unterstützen. In dieser komplexen Begegnung sind die Kinder nicht gezwungen, beispielsweise entweder Marokkaner oder Belgier zu sein, sie können vielmehr einzigartig sein, aktiv ihre Identität konstruieren und sich dabei auf ihre multiplen Zugehörigkeiten beziehen.
Außerdem lassen die multikulturelle und die extrem rechte Bewegung – beide – eine gründliche Analyse der strukturellen Ungleichheit in der Gesellschaft vermissen. Neueste Beispiele zeigen, wohin diese Dekontextualisierung führen kann. Die Gewalt in den französischen Vorstädten im Herbst 2005 wurden fälschlicherweise als Probleme der ethnischen Ausgrenzung dargestellt und nicht als grundlegende sozialökonomische Ausgrenzung. In Flandern verlässt ein unakzeptabel hoher Anteil von Heranwachsenden aus ethnischen Minderheiten die Schule ohne Abschluss, was das Bildungsministerium zu Aktionen brachte, um die Eltern von den Vorzügen der Vorschulbildung zu überzeugen. Ein zweiter Blick auf die Ergebnisse offenbart jedoch, dass die Ursache für die Bildungslücke auch in der sozialökonomischen Ungleichheit gesehen werden kann.
Pädagogik der Vielfalt und des Respekts vor Unterschieden
Zwei wesentliche Schlussfolgerungen können aus dieser kurzen Analyse gezogen werden:
- Eine Pädagogik der Vielfalt sollte kulturellen Essentialismus vermeiden und vielmehr darauf schauen, wie multiple Identitäten (einschließlich der Mehrsprachigkeit) bei Kindern und Erwachsenen gefördert werden können. Das kann dazu beitragen, stereotype Curricula zu vermeiden, die die Kinder in ihrer Geschichte sehen, ohne ihre Gegenwart zu berücksichtigen – und erst recht, ohne ihre Zukunft in Betracht zu ziehen.
- Eine Pädagogik des Respekts vor den Unterschieden reicht ohne gesellschaftliche Analyse der strukturellen Ungleichheit nicht aus. Bildung und Erziehung zur Vielfalt muss durch Programme der sozialen Einbeziehung ergänzt werden. Jüngste Forschungen in Flandern und anderen Ländern zeigen, dass es für Eltern mit geringerer Bildung, ohne Erwerbsarbeit oder aus ethnischen Minderheiten schwerer ist, für ihre Kinder Plätze in guten Kindereinrichtungen zu bekommen. Es kann daher sinnvoll sein, die Gefahr von Vorurteilen in Kindern nicht nur in späterem Rassismus und Ausgrenzung zu sehen, sondern auch als Symptom für strukturelle Ungleichheit. Das kann dabei helfen, die oberflächliche Zweiteilung in (weiße) Täter und (schwarze) Opfer zu überwinden, die noch zu oft die Bildungsdebatte über Unterschiede dominiert. Eine tiefer gehende Analyse ist nötig, die untersucht, wie Machtbeziehungen entstehen – auch in Kindereinrichtungen.
Ein interessantes Beispiel dafür wurde kürzlich in einer Kindertagesstätte in Brüssel dokumentiert, in einer Studie von Aisja Snoeck. Eine Mutter, die kürzlich aus dem Libanon eingewandert war, bat das Personal wiederholt, die zehn Monate alte Tochter nach dem Schlafen auf den Topf zu setzen. Anfangs weigerte das Personal sich, da die Sauberkeitserziehung in diesem Alter generell als schlechte Praxis angesehen wird, doch dann stimmten die Beschäftigten schließlich zu und erfüllten den Wunsch der Mutter. In Gesprächen danach machte die Mutter deutlich, dass sie nicht über den Topf und die Sauberkeitserziehung als solche besorgt war, sondern die Bestätigung brauchte, dass ihre Stimme gehört wurde. Nachdem das Personal sich einmal nach ihr gerichtet hatte, konnte sie einen gegenseitigen Dialog mit dem Personal beginnen und ihre libanesischen Eltern überzeugen, dass es ihrem Kind im Kindergarten gut gehen würde. Was Mutter und Personal hier ausgelebt hatten, war das Festlegen der Bedingungen für Bildung und Erziehung als gemeinsame Verantwortung zwischen dem öffentlichen und dem privaten Bereich, einschließlich der Wechselseitigkeit, die in der Gesellschaft zu oft fehlt.
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