Patricia Vincart beschreibt ein neuartiges Partnerschaftsprogramm zwischen Schulen und professionellen Künstlern, in dem es darum geht, die Kreativität der Kinder zu fördern.
Das Anim’action-Programm wurde im Jahre 2000 auf Initiative von COCOF, der Behörde für die französisch sprechende Gemeinde in der Brüsseler Region aufgebaut. Ziel war es, ungleiche Chancen zur Wahrnehmung kultureller Angebote zu verbessern und Barrieren zu beseitigen, die einer sozialen und politischen Teilhabe im Wege stehen. Anim’action sieht Kultur als einen Raum zu aktiver Beteiligung, zum Mitmachen. Das Programm bringt professionelle Künstler – Schriftsteller, Musiker, Maler, Erzähler, Straßenkünstler, Tänzer und andere – zusammen, die sich dafür einsetzen, die Kreativität von Kinder zu unterstützen.
Im Jahr 2006 beantragte ein Drittel aller Schulen der Region Brüssel die Teilnahme am Programm. Die Hälfte aller Bewerbungen wurde akzeptiert. An den meisten Projekten nehmen Kinder zwischen drei und zwölf Jahren teil. Die Projekte bearbeiten drei Themen: Sie ermuntern zum Lesen als kreativer Aktivität und als Mittel, Beziehungen aufzubauen. Sie fördern kreative Ausdrucksmöglichkeiten durch Kontakte mit künstlerischen Arbeiten. Oder sie fördern die aktive Bürgerbeteiligung, indem sie die Schulen zur Umgebung hin öffnen. Die Projekte müssen in der Schulzeit stattfinden, da die Schule praktisch der einzige Ort ist, an dem alle Kinder erreicht werden können und wo man sie mit kulturellen Aktivitäten bekannt machen kann.
Die eigentliche Herausforderung besteht darin, dafür zu sorgen, dass Schüler aller Altersstufen die Projekte unterstützen. Das geschieht, indem man ihnen ermöglicht, Verantwortung dafür zu übernehmen und etwas für sie selbst Bedeutsames zu finden, das sie in ihre Klassenräume und für ihr Leben mitnehmen können. Die Betonung liegt auf dem Prozess als Quelle von Bedeutung, Kreativität und Beteiligung. Unterstützung und Teilhabe von Schülerinnen und Schülern, so meint man, gibt es nur, wenn eine wirkliche Partnerschaft zwischen Künstler und Lehrer zustande kommt. Genau das ist es, was die partizipatorischen Projekte von denen unterscheidet, die angeordnet und aufgezwungen werden.
Das Beteiligungskonzept von Anim’action ist inspiriert von der Arbeit der Pädagogen in Reggio Emilia (Italien), besonders von den Ideen von Loris Malaguzzi: »Teilhabe beruht auf der Idee, dass die Realität nichts Objektives ist. Kultur ist ein soziales Produkt, das sich ständig verändert. Jeder verfügt über einige Kenntnisse und wenn ein (pädagogisches) Projekt begonnen wird, sind alle Standpunkte wichtig und relevant, die innerhalb eines Rahmens gemeinsamer Werte formuliert und ausgedrückt werden.«
Zu der Art von Partnerschaft, die Anim‘action entwickeln will, gehört, dass man anerkennt, dass jeder einzelne über Fähigkeiten und Kompetenzen verfügt, und dass alle einander ergänzen. Für die Künstler bedeutet das die Bereitschaft, anderen Menschen zuzuhören und sie zu befähigen ihr künstlerisches Wissen in einem kollektiven Prozess der Kreativität mit anderen zu teilen. Für die Lehrer bedeutet das, bereit zu sein, sich auf Unbekanntes einzulassen und vielleicht sogar selbst auszuprobieren, was von den Schülern erwartet wird, um die Freude daran und die Probleme damit selbst einschätzen zu können. Indem sie das tun, können sie eine neue Sichtweise und mehr Vertrauen in die Fähigkeiten ihrer Schüler entwickeln.
Jede einzelne Partnerschaft ist ein wichtiger Fixpunkt des Programms, doch sie entstehen nicht von selbst. Deshalb hat COCOF externe Berater (personnes resources) benannt, die jedes Projekt genau beobachten, um herauszufinden, wie es arbeitet und welches die Ziele der verschiedenen Teilnehmer sind. Sie beraten bei Schwierigkeiten.
Eine erfolgreiche Partnerschaft kann das hervorbringen, was Philippe Meirieu (Professor der Erziehungswissenschaften an der Universität Lyon) einen »nichtfeindlichen Raum« nennt, in dem Kinder den Sprung ins Unbekannte wagen und lernen, Dinge zu tun, die sie bisher als riskant betrachtet hätten: lauter sprechen, den ganzen Körper bewegen, mit Hingabe malen und die eigenen Gefühle ausdrücken.
Bücher und Worte genießen
»Es war einmal ein Mann, der hatte einen großen, großen Kochtopf. Aber sein Nachbar, der hatte überhaupt keinen Topf…«
Ein großer junger Mann, der Oskar heißt, kauert sich hin, begibt sich herunter auf das Niveau der Sechsjährigen. Er ist ein guter Mime mit ausdrucksvollen Händen und erzählt eine Geschichte aus seinem Land, eine afrikanische Geschichte.
»Guck mal, guck mal, das bist du, Oskar!« Eine Gruppe von Kindern schiebt den jungen Mann zum Bildschirm, auf dem ein Video ihrer Arbeit in einer Endlosschleife läuft. Lerie, von den Philippinen, ist auch dabei und erzählt die Geschichte von den »Augen der Ananas«. Dann wechseln sich ein paar kleine Mädchen und Jungen darin ab, auf einen Stuhl zu klettern und den beiden Jungen, die sie in ihre Herzen geschlossen haben, Geschichten zu erzählen. In der Maurice-Carême-Bibliothek in Anderlecht treffen sich an diesem Donnerstag im Mai Grundschul- und Mittelschulklassen, um den Abschluss eines Anim’action-Projekts zu feiern, an dem sie alle einige Monate gearbeitet haben: Das Projekt Pelzige Geschichten.
Französisch als Herausforderung
Es war eine lange und harte Plackerei! Die Bibliothek hatte die Initiative ergriffen, denn sie wollte die Lust am Lesen durch Kreativität und Aktivität wecken. So schlug sie ein Projekt vor, das den Namen hatte »Pelzige Geschichten: Bücher zum Lesen, Tiergeschichten zum Zuhören«, und lud die Schulen der Umgebung dazu ein mitzumachen. Drei Grundschulen und eine Mittelschule nahmen die Einladung an, und die Partnerschaft begann.
Alle teilnehmenden Schulen hatten eine benachteiligte und sehr gemischt zusammengesetzte Schülerschaft: Mehr als 20 Nationalitäten saßen in einigen Klassen dicht bei dicht, die Mehrheit der Schüler sprach nicht französisch als Muttersprache. So standen alle Lehrer vor derselben Herausforderung: Wie bringen sie ihre Schüler auf den Stand, den sie in der französischen Sprache brauchen, um in der Schule erfolgreich zu sein und an sozialen Aktivitäten teilzuhaben?
Kunst und Freude des Geschichtenerzählens
Das Team der Mittelschule beschloss, mit Schülern der dritten und vierten Klassen zu arbeiten. Die Lehrer baten die Schüler, Kinderbücher von drei belgischen Autoren zu lesen, von Mario Ramos, Emmanuelle Eeckhout und Laurenca Afano. Danach sollten sie die Bücher Schülern der ersten und zweiten Klassen in den Partnergrundschulen vorlesen. Das gab einen Aufruhr! »Zuerst wollten wir das einfach nicht machen, wir waren darüber überhaupt nicht froh«, erinnert sich Oskar. »Ihr müsst wissen, dass die meisten von uns nicht gut französisch sprechen. Wir hatten Angst, die Kinder würden uns nicht verstehen und uns auslachen.« Martina, ein polnisches Mädchen aus dem vierten Jahrgang der Mittelschule, bestätigt das. »Wir fühlten uns wirklich gestresst. Zum Glück kam Pie dazu und die Dinge wurden langsam besser.«
Anim’action bezieht Schüler, Lehrer und Künstler in die Arbeit ein und in dieser Phase wurde Pie Tshibanda ausgewählt, um die Kunst des Geschichtenerzählens zu unterrichten. Als Psychologe, Schriftsteller, Schauspieler und wunderbarer Geschichtenerzähler bewirkte Pie wahre Wunder. Mit Intelligenz und Feingefühl nahm er den Druck und die Anspannung aus Situationen, gab Ratschläge, führte vor, wie man Stille und Humor bewusst einsetzt. Die Schüler wurden ermutigt, sich in die Bücher der ausgewählten Autoren, aber auch in die Fundgrube von Geschichten aus ihren Ursprungsländern zu vertiefen.
Spektakulärer Fortschritt
Der Erfolg kam mit ihnen in die Klassenräume. Ein Französischlehrer bestätigt das: »Die Schüler haben enorme Fortschritte gemacht. Die meisten von ihnen wollten zuerst nichts mit dem Projekt zu tun haben. Wenn sie stolz auf ihre Kultur sind und ihre Herkunft hervorheben wollen, dann tun sie das üblicherweise nur, wenn sie unter sich sind. Es sind Teenager, die ihre Identität suchen und viel Angst davor haben, sich lächerlich zu machen. Aber allmählich gewannen sie Selbstvertrauen und jetzt sind sie bereit, sich nicht nur selbst vor anderen zu äußern, sondern auch ihre Meinung zu vertreten und sich dafür einzusetzen.«
Die jüngeren Schüler waren völlig gefesselt! »Sie nahmen wirklich an, was Pie ihnen sagte und übernahmen die Rituale des Erzählens, die er ihnen erklärt hatte«, sagt der Lehrer, der für den Leseraum an einer der Grundschulen verantwortlich ist. »Dass die Teenager kamen, war ein wirklicher Höhepunkt und löste wirklich etwas aus. So gingen sie los – zur Oberschule, mit vielen Zeichnungen unterm Arm und vielen Geschichten im Kopf. Und sie wurden Geschichtenerzähler für einen Tag, worüber sie sich sehr freuten.«
Ein Buch und eine Million Dinge zu tun
Die Schüler aus der ersten und zweiten Klasse nahmen auch an Workshops mit den drei Autoren teil. »Ich schreibe Bücher und ich kenne all ihre Geheimnisse. Ich weiß, dass man mit einem Buch eine Million Dinge machen kann«, erklärt Mario Ramos. »Die meisten Erwachsenen sehen nicht die Hälfte der Dinge, die in einer Zeichnung stecken, weil sie die Zeichnung nur als Ganzes wahrnehmen. Kinder haben eine Wahrnehmung, die mehr auf das Einzelne gerichtet ist, das ist sehr interessant. Deshalb kann man eine Menge verschiedener Aktivitäten starten. Was ich erreichen will, ist: meine Leidenschaft für Bücher weiterzugeben und die Kinder zu ermutigen, die Welt in sozialen Zusammenhängen zu sehen.«
Einen Autor persönlich zu treffen, ihm Fragen zu stellen, mit ihm zu reden ist eine faszinierende Erfahrung – für Schüler und Lehrer gleichermaßen. Sie hören zu und lernen zusammen. Mireio, Dichter und Maler, Eric Chagnon und Jonathan van Issegem, die ein Marionettentheater betreiben, haben ebenfalls mit den Kindern der Grundschule gearbeitet.
Ergebnis dieser Begegnungen waren alle Arten von Schätzen – handgearbeitete Bücher, Marionetten, Farbspiele, kleine Lieder und mehr. »Wenn sie zur Schule kommen, sprechen viele Kinder überhaupt kein Französisch… Aber plötzlich, wenn sie die Puppen sprechen lassen, haben sie auf einmal das Selbstvertrauen zu sprechen! Es war ja, als ob nicht sie selbst sprachen. Die Puppen beschützten sie«, erklärt ihr Lehrer. Der Artikel entstand in Zusammenarbeit mit der Journalistin Anne-Marie Pirard.
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