Das Thema dieser Ausgabe ist besonders wichtig, wenn man sich mit dem System der Bildung und Betreuung junger Kinder (Early Childhood Education and Care – ECEC) beschäftigt: Es geht um das Verhältnis zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor. Dabei stellen sich Fragen wie: Was bedeuten die Begriffe öffentlich und privat in den verschiedenen Ländern? Welche Rolle kommt den beiden Bereichen zu? Welchen Einfluss haben die Prinzipien des Marktes? Wie sehen die Beziehungen zwischen den Bereichen aus und wie haben sie sich verändert?
Autorinnen und Autoren aus neun europäischen Ländern beleuchten in ihren Beiträgen dieses Verhältnis aus ihrer Sicht. Ein wichtiger Bereich taucht jedoch überhaupt nicht auf: Die Betreuung durch Familienmitglieder, die häufig ohne Bezahlung stattfindet. Diese Betreuungsform spielt eine wesentliche Rolle und verändert sich, da die Position von Frauen in der Familie und im Beruf sich wandelt und es immer mehr Kindertageseinrichtungen gibt.
Die Beiträge in diesem Heft zeigen, wie sehr sich die Beziehungen zwischen öffentlichem und privatem Bereich in den einzelnen Ländern unterscheiden. Genauso unterschiedlich ist die Bedeutung der Begriffe an sich. In groben Zügen können wir vier Bereiche definieren, in denen organisierte Kinderbetreuung angeboten wird:
- Der öffentliche Sektor deckt verschiedene Ebenen der öffentlichen Verwaltung ab – als staatliche Form im nationalen bzw. föderalen Rahmen, in z.T. autonomen Regionen oder auf lokaler Ebene, z.B. als Gemeindeverwaltung.
- Der gemeinnützige, auch halbprivat genannte, Sektor besteht aus Einrichtungen, die von unterschiedlichen privaten Vereinen und Verbänden betrieben werden; er wird auch als Non-Profit-Bereich bezeichnet. Diese Vereine dienen einem sozialen, erzieherischen oder kulturellen Zweck, werden jedoch oft – zumindest teilweise – von der öffentlichen Hand finanziert. Traditionell stellten konfessionell gebundene Einrichtungen einen großen Teil dieses Bereiches. In Deutschland, Italien und Spanien ist das noch immer so. Aber es gibt auch viele nicht konfessionelle Träger. Der italienische Beitrag zum Beispiel beschreibt wie Genossenschaften zu wichtigen Trägern werden.
- Der kommerzielle private Bereich besteht aus Einrichtungen, die von einer Vielzahl betrieben werden. Das können Einzelunternehmern sein oder große Betriebe, die viele Kindertageseinrichtungen besitzen. Diese Entwicklung zeigt sich am deutlichsten in Großbritannien.
- Schließlich gibt es den Bereich, der als betrieblichen Sektor bezeichnet wird. Diese?Form der Trägerschaft war – wie z.B. in Ungarn –, in den kommunistischen Staaten Mittel- und Osteuropas und in der Sowjetunion verbreitet. Viele staatlich geführte Unternehmen stellten Krippen und Kindergärten für die Kinder ihrer Beschäftigten bereit. Heute entdecken Betriebe in Westeuropa, dass Kinderbetreuung ein wichtiger sozialer Aspekt für die Belegschaft ist. Am deutlichsten zeigt sich das in den Niederlanden, wo Unternehmen aufgefordert werden, Zuschüsse zu den Kinderbetreuungskosten ihrer Beschäftigten geben. Diese Unterstützung dient dazu, die Beschäftigten an das Unternehmen zu binden.
Das Verhältnis zwischen dem öffentlichen und privaten Bereichen der Kinderbetreuung ist ein Thema, das bis in die Anfänge des Sozialstaates zurückreicht. Die ersten Kindertageseinrichtungen waren häufig konfessioneller und karitativer Natur. Von da ab spielte der Staat eine zunehmend wichtige Rolle, indem er Zuschüsse vergab, Regelungen und Gesetze einführte und schließlich selbst Träger wurde. In manchen Ländern führten die langjährig praktizierten und institutionalisierten Beziehungen zwischen den Sektoren dazu, dass es heute auf der organisatorischen Ebene keine klare Unterscheidung zwischen öffentlichen und halbprivaten Einrichtungen gibt. So wird beispielsweise in Belgien nicht nach öffentlichen und privaten Trägern unterschieden, sondern nach subventionierten und nichtsubventionierten.
Anderswo haben politische Umwälzungen eine kontinuierliche Entwicklung der Beziehung zwischen Privaten und Öffentlichen unterbrochen. Das sozialistische Regime in Ungarn hat dem Land ein staatliches System der Kinderbetreuung auferlegt, so wie andererseits das Franco-Regime in Spanien nur private Träger unterstützt hat. In beiden Fällen erweist es sich seitdem als schwierig, Vielfalt in das Kinderbetreuungssystem einzuführen.
Der Trend heute ist, öffentliche Investitionen auf bildungsorientierte (schulische) Einrichtungen für Kinder zwischen drei Jahren und dem Einschulungsalter zu konzentrieren. Eine von der öffentlichen Hand subventionierte Betreuung für die Kinder dieser Altersgruppe ist in fast ganz Europa verbreitet. Die Einrichtungen werden meist vom öffentlichen und halbprivaten Sektor getragen. Diese Einrichtungen können den Bedarf berufstätiger Eltern nicht befriedigen, da sie oft nur während der Schulzeiten geöffnet haben. Der kommerzielle Bereich spielt im Allgemeinen nur eine untergeordnete Rolle.
Für Kinder, die jünger als drei sind, ist die Situation völlig anders. Für sie, so beschreiben es die meisten Beiträge, gibt es viel weniger Plätze in Kindertageseinrichtungen, werden geringere öffentliche Investitionen bereitgestellt und es gibt kein Anrecht auf einen Platz in einer mit öffentlichen Mitteln unterstützten Kindertageseinrichtung. Obwohl manche Länder bedingt Einrichtungen finanzieren, spielen private Anbieter bei der Betreuung eine viel größere Rolle als bei den etwas älteren Kindern. Dabei gibt es auch hier unterschiedliche Formen: private Kinderkrippen, Familientagespflege/Tagesmütter, Kindermädchen (Nannys), Betreuung durch Verwandte.
Hier ist aber der kommerzielle Bereich viel ausgeprägter. Die meisten Länder weisen ein geteiltes Kinderbetreuungssystem vor: Zum einen gibt es eine allgemeine Versorgung aller Kinder über drei Jahre. Einrichtungen werden vom Staat direkt betrieben oder subventioniert. Zum anderen gibt es ein viel geringeres staatliches Engagement bei den Angeboten für jüngere Kinder. Hier verlässt man sich in weitaus größerem Maße auf private Anbieter und darauf, was Eltern bezahlen können.
Diese Aufspaltung birgt grundsätzliche Risiken, besonders das Risiko von mangelnder Chancengleichheit und sozialer Ausgrenzung. Je mehr die Kinderbetreuung Marktmechanismen überlassen wird, desto mehr hängen Erfahrungen, die Kinder machen können, davon ab, wo sie herkommen und über welche Ressourcen ihre Eltern verfügen. Zu den Ressourcen zählen dabei Informations- und Mobilitätsmöglichkeiten, die Haltung des Arbeitgebers (gibt er finanzielle Unterstützung zur Kinderbetreuung?) und das Einkommen der Eltern. Wenn Betreuung nicht als öffentliches Gut in öffentlicher Verantwortung angesehen wird, können Kinder sozial ausgegrenzt werden.
In Belgien haben privilegierte soziale Schichten einen besseren Zugang zu öffentlichen Betreuungseinrichtungen. Das trägt zu sozialer Spaltung und Ausgrenzung von Kindern bei.
In Dänemark wird kein Unterschied zwischen jüngeren und älteren Kindern gemacht. Alle Kinder haben das Recht auf einen Platz in einer Kindertageseinrichtung, wenn sie älter als sechs Monate sind. Der öffentliche Sektor spielt dabei eine zentrale Rolle, sowohl als Träger (neben einem wichtigen halbprivaten Sektor) als auch als Geldgeber, der Einrichtungen subventioniert.
In den Niederlanden entschied man sich 2005, die Angebote für Kinder unter vier Jahren (danach beginnt die Schulpflicht) dem Markt zu überlassen, der durch eine Mischung aus Elternbeiträgen, Unternehmenszahlungen und staatlichen Zuschüssen an Eltern finanziert wird. (Es gibt jedoch neuerdings eine Diskussion über eine Umorientierung auf Erziehung und Bildung in der frühen Kindheit für alle Kinder, anstatt sich weiterhin auf berufstätige Eltern zu konzentrieren, wie das gegenwärtig noch geschieht.)
Der private Sektor der Kinderbetreuung ist keine neue Erfindung. Daher stellt sich vor allem die Frage, welche Bedingungen er braucht, um zur Entwicklung von nationalen Systemen frühkindlicher Bildung und Betreuung beizutragen – und zwar in einer echten Partnerschaft mit dem öffentlichen Sektor, um für eine gute Qualität des Angebots und gleiche Zugangschancen für alle Kinder und ihre Familien zu sorgen. Es genügt nicht, den Markt nur dem Wettbewerb zwischen privaten Anbietern zu überlassen. Das Argument, der Wettbewerb werde Kosten senken und Effizienz erhöhen, wurde noch nicht bewiesen. Es beruht vielmehr auf einem möglicherweise grundsätzlichen Missverständnis über das Wesen der Angebote für die frühe Kindheit. Dieser Gedanke, wie Edgar Szoc erklärt, ist inzwischen in der EU angekommen, die jetzt vom Zusammenlegen der Kinderbetreuung (und anderer sozialer Dienste) mit kommerziellen Einrichtungen abrückt. Bei einer Orientierung nur am Markt bestehen sogar beachtliche Risiken: Sie kann Diskrepanzen vergrößern, weil sich die Träger auf wohlhabende Familien konzentrieren, insbesondere auf Eltern, die berufstätig sind. Das führt letztlich dazu, dass viele Einrichtungen nicht mehr finanziell abgesichert sind und es in ärmeren Gebiete immer weniger Kinderbetreuung gibt.
Vielversprechend ist die Idee eines gemischten Angebots mit einer gleichwertigen Partnerschaft zwischen dem öffentlichen und dem halb-privaten Sektor, wenn beide in Bezug auf Zugangsmöglichkeiten, Gebühren, Qualitätsstandards und Arbeitsbedingungen für das Personal ähnlichen Anforderungen unterliegen. In Dänemark ist sie bereits verwirklicht und in Italien in Teilen umgesetzt. Das stellt eine horizontale Integration zwischen öffentlichem und privatem Sektor sicher, die auf gemeinsamen Werten und Zielen beruht. Vielfalt drückt sich dabei in der Arbeit mit differenzierten pädagogischen Prinzipien und pädagogischer Praxis aus, nicht in strukturell ungleichen Rahmenbedingungen. Trotzdem bleiben Fragen: Sollte das System den kommerziellen Bereich umfassen? Sollte der öffentliche Bereich ein gleichberechtigter Träger von Einrichtungen sein – oder, die Frage stellt sich in Deutschland und in Großbritannien, nur der Träger, der den letzten Ausweg darstellt?
Das Ziel, das sich die Mitgliedsstaaten auf der Gipfelkonferenz in Barcelona 2002 gestellt haben, Kinderbetreuungsplätze für ein Drittel aller Kinder unter drei Jahren und für 90 Prozent der Kinder zwischen drei und sechs Jahren bereitzustellen, stärkt die nationalen Programme zur Verbesserung der Bildung, Betreuung und Erziehung junger Kinder. Rein quantitativ formulierte Ziele aber, die nur die Betreuung von Kindern berufstätiger Eltern im Blick haben, fördern lediglich eine Ausweitung der Angebote, ohne der Qualität und den weiter gesteckten Zielen frühkindlicher Bildung eine angemessene Aufmerksamkeit zu widmen. Die Versuchung führt zu einer Abhängigkeit vom Markt und den privaten Anbietern. So werden zwar Plätze in Kindertageseinrichtungen zur Verfügung gestellt, größere soziale Ziele nicht genug beachtet, die nur mit einer aktiven Beteiligung des öffentlichen Sektors und einer starken und gleichberechtigten Partnerschaft erreicht werden können – wenn alle Beteiligten sich verpflichtet fühlen, allen Kindern in Europa gleiche Zugangsmöglichkeiten zu guten Kindertageseinrichtungen zu sichern.
Perrine Humblet
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