Welche Bedeutung haben Mahlzeiten im Leben von Kindern? Gastherausgeber Ferruccio Cremaschi schlüpfte bei der Planung dieser Ausgabe in die Rolle eines Kindes.
Kindheit und Essen – beides sind aktuelle Themen. Sie führen uns auf viele verschiedene Wege: Ernährung, Psychologie, Soziologie, Anthropologie, Psychoanalyse, Ökonomie…
Als ich dieses Heft plante, stieß ich auf viele bedeutende Themen. Um auszuwählen, was ich in diese Ausgabe aufnehmen will, versetzte ich mich selbst in die Rolle eines Kindes, das einen Kindergarten oder eine Schule besucht. Was bedeuten die Mahlzeiten im Laufe eines Tages? Wie wichtig sind sie? Wie werden sie angeboten? Welche Auswirkung haben sie auf die Entwicklung des Kindes?
Ich habe bestimmten Themen Priorität gegeben, um sie gemeinsam mit Ihnen zu betrachten.
Erziehung und Bildung sind ganzheitliche Prozesse
Beim Essen geht es nicht nur darum, sich mit der notwendigen Energie für die täglichen Aktivitäten zu versorgen. Es ist vielmehr verknüpft mit der Zeit, dem Raum, einem bestimmten Kontext und Beziehungen und es erreicht alle Sinne. Das Sehen ist daran beteiligt, um das angebotene Essen zu schätzen, das Aussehen der Speisen, die Farben und das Arrangement der Zutaten zu würdigen. Der Tastsinn ist beteiligt, um die Konsistenz der Speisen zu erkennen und zwischen Knusprigem und Weichem, zwischen Festem und Flüssigem zu differenzieren. Der Geruchssinn unterscheidet verschiedene Düfte und Aromen. Der Geschmackssinn erkennt und würdigt süße, salzige, würzige und bittersüße Geschmacksrichtungen. Das Hören ist beteiligt, um die Bestandteile eines Gerichts mit dem Geräusch des Bratens, dem Gurgeln eines Getränks, das aus einer Flasche in ein Glas gegossen wird, zu verbinden. Über all das hinaus ist auch das Gedächtnis daran beteiligt – durch den Reiz, den ein Gericht auslöst und mit dem es an vergangene Erfahrungen voller emotionaler Bedeutung und Wärme erinnert.
Desmond Morris verbindet Essen mit der Erfahrung der Vorfahren, die wir von unseren Vorvätern, die Bauern und Jäger waren, ererbt haben. Wir wählen Nahrungsmittel aus, die die Farbe von Früchten und Beeren haben (gelb, orange und grün) oder von Fleisch und Fisch (rot oder weiß). Wir lehnen Speisen in anderen Farben ab, trotz der endlosen technologischen Möglichkeiten. Wer würde schon freiwillig eine blaue Sauce essen? Diese Faktoren müssen berücksichtigt werden, wenn wir Räume einrichten, in denen Kinder essen sollen, damit sie sich sicher und entspannt fühlen. Das gelingt, indem wir blendendes Licht, geräuschvoll klirrendes Geschirr und harte Tischoberflächen vermeiden.
Das Essen hat eine soziale Dimension
Essen ist nicht nur eine Reaktion auf ein physisches Bedürfnis des Menschen, sondern hat auch eine soziale Dimension, eine Dimension der Gemeinsamkeit, des Teilens. Essen wurzelt in der Erinnerung unserer Vorfahren. Das ist in einem Kindergarten oder einer Schule natürlich wichtig, wo das Kind Teil einer größeren Gruppe ist. Das Kind isst nicht allein. Essen ist eine Erfahrung, die es mit anderen Kindern teilt, mit denen gemeinsam es verschiedene und neue Geschmacksrichtungen probiert und unterschiedliche Gewohnheiten und Vorlieben vergleicht. Essen bedeutet, mit etwas anderem als sich selbst in Kontakt zu kommen, mit Dingen, die von außen kommen und Teil unseres Körpers werden. Es besteht das Bedürfnis nach der angemessenen Zeit, tröstlichen Rhythmen und Sicherheit, die durch die Wiederholung von Handlungen gegeben wird, einschließlich wichtiger Rituale der Vorbereitung: Du gehst und wäschst dir die Hände, der Tisch wird gedeckt, es gibt wohlverstandene Regeln, die befolgt werden müssen, dein Platz am Tisch ist bekannt.
Nahrung ist das Ergebnis eines komplexen Herstellungsprozesses
Das, was die Kinder vor sich auf den Tellern sehen, ist das Resultat eines komplexen Prozesses, an dem viele politische und technische Entscheidungen mitwirken. Die Organisation der Mahlzeiten in Kindergärten oder Schulen verlangt das Wissen von Experten wie Kinderärzten und Ernährungswissenschaftlern, um Speisepläne auszuarbeiten, die die Jahreszeiten berücksichtigen und eine gleichmäßige Versorgung der Kinder mit allen Nährstoffen, die sie für ihr Wachstum brauchen, garantieren. Auch die Speisepläne müssen sich verschiedenen medizinischen, religiösen und ethnischen Anforderungen anpassen, ebenso wie der Auswahl und den Vorlieben der Kinder selbst. Die Köche arbeiten dann daran, die Zutaten appetitlich und abwechslungsreich anzubieten.
Aber all diese technischen Kenntnisse können noch nicht für Mahlzeiten sorgen, die nicht nur nahrhaft sind, sondern auch wirklich gegessen werden. Nach einer Schätzung des Italienischen Instituts für Ernährung wird fast die Hälfte aller Mahlzeiten in Schulen weggeworfen. Eine Studie, die herausfinden wollte, was die Kinder mögen und was nicht, kam zu der Schlussfolgerung, dass es wichtig ist, dass das Essen sowohl der gastronomischen Tradition des Landes als auch der kulturellen Vielfalt der örtlichen Familien entspricht. Das erreicht man nur, wenn man die Kinder, Lehrer, Erzieher, Eltern und alle anderen Interessengruppen einbezieht. In vielen Regionen Italiens werden ernährungswissenschaftliche Stunden und Kochkurse für Eltern immer üblicher, um die Eltern über die Kriterien, die beim Zubereiten des Schulessens angewendet werden, zu informieren, und mit ihnen die am besten geeigneten Menüs auszuwählen.
Aufmerksamkeit für das Essen der Kinder kann eine Stadt verändern
In vielen Teilen Europas wird den Ursprüngen und der Qualität der Zutaten wachsende Aufmerksamkeit gewidmet. Ein Beispiel ist die Stadt Ferrara in Norditalien, die im März 2004 vom World Watch Institute als internationales Beispiel für Systemökologie anerkannt wurde. Die Stadt hat in ihren Angaben für die Versorgung mit Essen auch festgelegt, dass die Produkte aus biologischem Anbau stammen müssen. Diese Initiative wird von einem System von Kontrollen und Unterstützung für die Produzenten unterstützt und verbindet den Respekt vor der menschlichen Gesundheit mit dem Umweltschutz. Außerdem hat die Initiative damit begonnen, die Ernährung einer ganzen Stadt zu verändern, denn sie hat dafür gesorgt, dass Bioprodukte besser als bisher zu bekommen sind. Sie hat auch zur weiteren Verbreitung einer Kultur beigetragen, die die Wahl von Bioprodukten anerkennt und schätzt.
Für Kinder ist es wichtig, dass das Essen sowohl der gastronomischen Tradition des Landes als auch der kulturellen Vielfalt der Familien entspricht.
Das Kind steht im Mittelpunkt
Kinder zu ernähren ist niemals einfach, weder in der Familie noch außerhalb der Familie. Kinder haben starke Vorlieben für bestimmtes Essen ebenso wie eine starke Abneigung gegenüber anderen Speisen. Mit beidem – Vorliebe wie Abneigung – stimmen die Erwachsenen oft nicht überein. Oft lehnen Kinder bestimmtes Essen auch ab. Ihre Akzeptanz von Lebensmitteln, ihre Bereitschaft, sich einer Welt zu öffnen, die noch »geschmeckt« werden muss, ist abhängig von dem Vertrauen, das sie den Erwachsenen entgegenbringen, die ihnen das Essen anbieten. Und wenn es schon ein Kampf werden kann, Kinder in der Familie an neue Geschmäcker zu gewöhnen, kann das außerhalb der Familie noch schwieriger werden.
Auf den folgenden Seiten finden Sie Beiträge, in denen sich die Komplexität des Themas Kindheit und Essen widerspiegelt. Es gibt viele wirkliche Probleme, aber in vielen Fällen können auch Lösungen gefunden worden und oft kommen sie von den Kindern selbst.
Lassen Sie mich dieses Editorial mit einer kleinen Episode beenden, die zurzeit in Italien erzählt wird. In einer kleinen Stadt in der Region Emilia Romagna, die für ihre kulinarische Tradition und ihr gutes Essen bekannt ist, überlegte die örtliche Verwaltung, wie man die Bedürfnisse der Kinder aus verschiedenen ethnischen Gruppen, die in die örtlichen Schulen gehen, am besten befriedigen kann. Man entschied sich dafür, neben den traditionellen Speisen der Region wie Cappelletti (mit Fleisch gefüllte Nudeln in einer deftigen Fleischsauce) auch Couscous anzubieten und so die Kultur der Kinder aus nordafrikanischen Familien zu berücksichtigen. Der Bürgermeister besuchte mittags einen Kindergarten und sprach den kleinen Mohammed an, der von dem Couscous auf dem Teller vor ihm nicht sehr überzeugt zu sein schien.
»Magst du Couscous, Mohammed?«
»Das von meiner Mama ist besser«, antwortete der kleine Junge.
»Sie muss ein besonderes Rezept haben.«
»Nein, aber meine Mama macht eine Schicht Couscous, dann eine Schicht Cappelletti, dann wieder eine Schicht Couscous und noch eine Schicht Cappelletti…«
Mohammeds Mutter hatte ein Gericht erfunden, das zwar nach den örtlichen Traditionen nicht gastronomisch korrekt war, sich aber praktisch als eine erfolgreiche kulturelle Synthese erwiesen hatte.
Diese Geschichte bestätigt die Überzeugung, dass wir durch eine solche Vermischung Hoffnung für die Zukunft gewinnen können.
Perrine Humblet
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