Ein Streifzug mit Kindern durch die Stadt
Im Herbst 2022 begab sich die Theatermacherin Lisa Vera Schwabe zusammen mit ihrem Team, der Regisseurin Franziska Seeberg und dem Klangkünstler Norbert Lang sowie 16 Kitakindern und deren Erzieher:innen auf Streifzüge in die Natur. An insgesamt sechs Tagen erkundeten sie in Berlin- Spandau, einem Bezirk im Westen der Stadt, den Hahneberg und seine Bäume.
Wir stehen auf dem Gelände der Naturschutzstation Hahneberg, unserem Treffpunkt im Berliner Bezirk Spandau. Jenseits einer als Lärmschutz besonders dicht und hoch gezogenen Hecke blicken die Kinder der AWO Kita Zwergenwinkel, ihre Erzieher:innen, meine Kolleg:innen Franziska Seeberg und Norbert Lang und ich umher. Gerade noch bewegten wir uns durch die Großstadt, überquerten die vierspurige Heerstraße und ließen Autos an uns vorbeibrettern. Jetzt aber, nur wenige Schritte davon entfernt, ist alles geradezu friedlich und bereits so viel ruhiger, dass wir nicht mehr schreien müssen, um uns zu verständigen. Wir sehen bunt gestaltete Hochbeete, eine Kräuterspirale, einen Barfußpfad und dahinter einige gewundene Weidezäune mit Schafen. Es ist der erste von insgesamt sechs Tagen, an denen wir gemeinsam die Bäume vor Ort kennenlernen wollen: Birken, Robinien, Kiefern, alte und junge Bäume, ihre Wurzeln, Äste, Zweige und Blätter.
Auf allen vieren
Bevor wir uns auf den Weg machen, weckt eine Ameisenstraße das Interesse der Kinder: »So viele!« und »Was machen die da?« und »Wo wollen die hin?« fragen sie. Dann geht es los, wir wenden uns von der Heerstraße ab und einem von Robinien gesäumten Pfad zu, der stetig ansteigt. Heute beglei- tet uns auch Lucia Kühn, die Leitung der Naturschutzstation Hahneberg. Während des Aufstieges bemerken wir verlassene Tierbauten rechts und links des Weges. Wir fragen: »Wer hat hier gewohnt?« und die Kinder machen sich auf die Suche nach einer Antwort. Tief hinein ins Erdreich tasten sie nach Hinweisen auf mögliche ehemalige Baubewohner:innen.
Die Rufe der anderen Kinder locken uns weiter: »Hier kann man klettern!« Sie haben einen eigenen Weg gefunden, der sie interessiert. Es ist eine steile Matschpiste, auf deren lehmigem Untergrund sich die Kinder auf allen vieren nach oben arbeiten und von oben auf dem Hosenboden wieder herunterrutschen lassen. So geht es hinauf und hinunter, und es dauert eine Weile, bis die Gruppe vollständig oben angekommen ist. Vor uns tut sich ein Birkenwäldchen auf. Wir streifen hindurch, arbeiten uns bis zu einer verwilderten Brache vor und vergessen die Stadt hinter uns.
Ein Baum wie kein anderer
Für eine erste Kontaktaufnahme mit der Landschaft um uns herum sammeln wir, was wir am Waldboden finden können. Wir schaffen große Äste herbei, klauben Rinde und Moos zusammen, sortieren Blätter und Stöckchen. Die Fundstücke sind unser Baumaterial. Stück für Stück setzen wir daraus einen neuen Baum zusammen und lernen dabei seinen Bauplan kennen. Der selbst gebaute Baum lädt auch zum Spielen ein: Er wird durchschritten, erstiegen, ertastet und belebt. Die Kinder setzen ihre Körper ins Verhältnis zu ihm und machen sich ihn auf ihre Weise zu eigen. Von Lucia Kühn erfahren wir an diesem Tag auch, wie man allein anhand eines toten Baumstamms, auch ganz ohne Blätter, die Art eines Baumes bestimmen kann.
Wer sind die Kinder?
Auch in unserer Kitagruppe erfreuen wir uns an Heterogenität: Viele Nationalitäten und Sprachniveaus kommen hier zusam- men und ebenso viele verschiedene Erfahrungen und Grade der Vertrautheit in und mit freier Natur. Während die einen ohne Scheu Ameisenstraßen stauen, morsches Gehölz mit bloßen Händen zerdrücken, Steine umdrehen, um die kleinen Tiere darunter zu beobachten, und sich für eine Pause ins hohe Gras setzen, haben andere Schwierigkeiten, alleine durchs Gras zu laufen oder Insekten zu begegnen. Ein Junge will sich trotz Sitzkissen zunächst nicht ins Gras setzen. Mit großer Freude beobachten wir im Verlauf der Tage, wie sich das Kind an seine Umgebung gewöhnt und am Ende auch mal seine Kapuze abnimmt, die es davor zum ständigen Schutz aufbehalten hatte.
In der gemeinsamen Arbeit mit den Kindern verstehen wir jeden Baum als Individuum. Der individualisierte Blick auf einen einzelnen Baum hilft, ein konkretes Gespür für ihn und die Natur um ihn herum zu entwickeln. Ermutigt von dem gemeinsamen, lustvollen und einladenden Bauen zu Beginn, finden die Kinder im Verlauf der Tage Bäume, an denen sie es sich bequem machen. Wie am Tag zuvor, sammeln sie totes Baumaterial und schaffen sich – allein oder zu zweit – ihre persönlichen Baum-Orte. An »ihrem« Baum probieren sie aus: Gibt es einen Ast, den man fortführen kann, um damit die Blätter zu spüren, die sich im Wind bewegen? Gibt es eine Kuhle zwischen den Wurzeln, die dazu einlädt, die Kraft und Energie zu fühlen, die der Baum bis in die Spitze seiner Krone pumpt? Welche Geheimnisse erfahre ich, wenn ich der Baum bin? Was höre ich und was sehe ich? Die Kinder bekommen den Raum, sich neu zu erfahren und sich einer anderen Sinnlichkeit zuzuwenden. Wir beobachten, dass die Kinder während der gesamten Projektdauer den persönlichen Bezug zu »ihrem« Baum beibehalten. Wann immer sie können, kehren sie zu ihm zurück – sie bearbeiten ihre Bauten, spielen oder ziehen sich dorthin zurück, um ihre Ruhe zu haben.
Lisa Vera Schwabe ist Kulturwissenschaftlerin und lebt und arbeitet als Autorin, Theatermacherin und Lebenskunde- Lehrerin in Berlin. Seit 2010 hat sie zahlreiche partizipative Projekte für Kinder initiiert und mitentwickelt. Darunter auch das Konzept des TUKI ForscherTheater.
Kontakt
www.lisaveraschwabe.com
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2023 lesen.