Wenn der innere Raum ins Wanken gerät
Am liebsten möchten wir unsere Kinder vor leidvollen Gefühlen wie Schmerz und Trauer bewahren. Dennoch ist die Realität eine andere. Die Trauerbegleiterin und Fortbildungsreferentin Anika Waschkawitz weiß, dass alle Kinder kleine und große Abschiedsräume durchleben und Trauerräume viel Geduld und Mut brauchen. Wenn es darum geht, seiner Innenwelt Ausdruck zu verleihen, Trauer- und Hoffnungsräume entstehen zu lassen und sich eines Tages in der eigenen Welt wieder zu Hause und sicher zu fühlen, können wir von jenen, die es, wie die fünfjährige Lisa, besonders nah und unvorbereitet getroffen hat, viel lernen.
»Anika, was mache ich eigentlich, wenn Mama auch stirbt? Ich weiß doch nicht mal, wo es hier ein Kinderheim gibt. Kannst du mir bitte sagen, wo ich ein Kinderheim finde?«, fragt mich die fünfjährige Lisa. Vier Wochen nachdem ihr Papa durch einen Unfall ums Leben kam, stellt sie an einem sonnigen Nachmittag in der Einzeltrauerbegleitung Fragen, mit denen sich Kinder im Kita-Alter normalerweise nicht auseinandersetzen. Die Urgroßmutter, die im hohen Alter verstirbt, der Großvater, der an Krebs erkrankt, das geliebte Haustier, das im Garten begraben wird oder der angefahrene Vogel, dem nicht mehr zu helfen war, bringen früher oder später jedes Kind mit dem Tod in Berührung.
Der unvorhergesehene Tod eines Elternteils scheint in ihrer Vorstellung von der Welt jedoch weniger vorgesehen zu sein und braucht besonders erfahrene Begleitung. So oder so: Die Berührung mit dem Tod bringt unsere innere Welt ins Wanken. Wir Erwachsenen verfügen bereits über die eine oder andere Erfahrung von Verlust und wie wir diese mehr oder weniger aus eigener Kraft bewältigen können. Kinder brauchen neben Trauer- und Hoffnungsräumen auch Erwachsene, die ihren Sorgen und Fragen einen Raum geben und sie darin unterstützen, wieder Vertrauen ins Leben zurückzugewinnen.
Wo ich bin, ist meine Welt
Für Kinder, die einen nahestehenden Menschen verlieren, fühlt sich zunächst nichts mehr an wie vorher. Meist sind sie zudem doppelt betroffen, weil sie nicht nur mit ihrer eigenen Flut an Emotionen, sondern auch mit denen ihrer Bezugspersonen, die ja ebenfalls in enger Beziehung zu dem oder der Verstorbenen standen, konfrontiert sind. Solche Grenzsituationen werden auch deshalb oft zu einer Zerreißprobe für die ganze Familie, weil Erwachsene unsicher sind, inwieweit die Kinder überhaupt in das gemeinsame Betrauern und Verabschieden involviert werden sollten. Aus meinen Fortbildungen in Kindertageseinrichtungen weiß ich, dass auch Erzieher:innen oft unsicher sind, ob sie das Kind auf den erlebten Verlust ansprechen oder das schwere Thema lieber umgehen sollen.
Trauerräume
Weil Familien in Trauerzeiten besonders viel Unterstützung brauchen und Kinder dabei häufiger auf sich allein gestellt sind, als wir uns das vorstellen wollen oder können, möchte ich alle, die Kinder mit Verlusterfahrung begleiten, ermutigen, dazu beizutragen, das Unfassbare fassbar zu machen, statt es aus Sorge vor Überforderung oder falschverstandener Rücksichtnahme auszuklammern. Der Tod ist Teil des Lebens. Und ebenso ist Trauer ein Teil des Lebens – ein notwendiger Prozess, der vor keinem Alter Halt macht und den es zu durchleben gilt, wenn man einen wichtigen und wertvollen Menschen verloren hat. Trauer bedeutet Anpassung an eine neue Lebenssituation, die nach Orientierung in der Welt ohne den geliebten Menschen verlangt. Um sich an die
neue Lebenssituation anzupassen und die Orientierung in der eigenen Welt wiederzufinden, ist es für Kinder notwendig, in den Prozess des Abschiedes involviert zu werden. Der erste Schritt zum Umgang mit Verlust beginnt mit der Realisierung des Verlustes. Das ist für uns Erwachsene nicht anders als für Kinder. Allerdings brauchen Kinder eine kindgerechte Vorbereitung für das, was sie beispielsweise bei einer Aufbahrung, Kremation oder Beerdigung erwartet, und damit sie nicht mit Fragen überfordert sind, z.B. wie es sein kann, dass der Opa in die Urne passt. Um ihnen den Verlust begreifbar zu machen, braucht es meist weniger Impulse von uns, als wir vielleicht denken, sondern eher ein offenes Ohr und die Möglichkeit, bzw. Bereitschaft, dem Kind zu folgen und seinen Bedürfnissen Raum zu geben.
An dem Tag, als Lisa zusammen mit ihrer Mutter und mir von ihrem Papa am offenen Sarg Abschied nehmen konnte, wollte sie zuerst nur von außen durch das Fenster der Trauerhalle auf ihren Papa schauen. Sie schaute immer wieder zum Sarg und fing an zu weinen. Dann wollte sie über den Friedhof gehen, wobei ich sie einfühlsam begleitete. Immer wieder blieb sie an Grabsteinen stehen und wollte von mir wissen, mit wie viel Jahren die Menschen hier verstorben sind. Hin und wieder bemerkte sie, dass der Mensch – genau wie ihr Papa – nicht alt geworden ist. Dann wollte sie wieder ihren Papa sehen. Diesmal ging sie in den Raum, wo der Sarg aufgebahrt war. Ihre Mama saß auf der Bank neben dem Sarg und weinte. Lisa ging zu ihrer Mama und drückte sie. Dann fing auch sie an zu weinen und sie ließen gemeinsam ihren Tränen freien Lauf. Nach einigen Minuten wollte Lisa noch einmal mit mir hinausgehen und einen Blumenstrauß auf der Wiese pflücken, um ihn ihrem Papa mit ins Grab zu legen. Das war ihr wichtig. Zum Schluss war es ganz bedeutungsvoll für sie zu sehen, wie der Deckel auf den Sarg gesetzt wird und sie sicher sein konnte, dass es wirklich ihr Papa ist, der verbrannt wird und er nicht mit jemand anderem ausgetauscht werden könnte. Einige Wochen später erzählte sie mir, dass es einen Moment gab, wo sie dem Papa gern einen Kuss geben wollte, sie dann aber realisierte, dass es dafür zu spät war. Das Ritual, Verstorbene mit einer Totenwache mehrere Tage zu Hause behalten, wäre ihrem Bedürfnis eines mehrschrittigen Abschiedes sicherlich entgegengekommen, denn dann hätte sie ihrem Papa noch diesen Abschiedskuss geben können. Traditionelle Trauerriten wie dieses sind uns in Deutschland weitgehend verlorengegangen. Umso wichtiger ist es, uns für neue Wege des Abschiedes zu öffnen. Für unsere eigenen Trauerprozesse und für die der Kinder.
Anika Waschkawitz ist Kindheitspädagogin und Meditationslehrerin. Als Trauerbegleiterin und Fortbildungsreferentin sensibilisiert sie Erwachsene in Kitas und Schulen, aber auch Pflegeheimen für einen optimalen Umgang mit Kindertrauer. Im Hospiz an ihrem Wohnort Rostock begleitet sie zudem ehrenamtlich Menschen in ihrer letzten Lebensphase.
Kontakt
www.emotionsbewegung.de
Bilder: Anika Waschkawitz
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/2023 lesen.