Auf dem Weg von der Organisation zur Selbstorganisation
Seit mehr als zwei Jahrzehnten experimentieren die Mitarbeitenden des Kindergartens Wilde 9 in der Nähe von Greifswald damit, wie durch Reflexion innerer Haltungen gesunde Beziehungen mit Kindern, Eltern und im Team gelingen können. Wie sie sich als Team neu erfunden haben und persönliches Wachstum zum Motor für Entwicklung wird, berichtet die Mitbegründerin des Kindergartens Anja Niemand.
Carolin sitzt weinend auf einer Bank im Eingangsbereich unseres Kindergartens. Die Dreieinhalbjährige will zu Hause sein. Zusammen mit ihrer Mama. Sie weint, seit sich die Mutter von ihr verabschiedet hat. Maria, eine Pädagogin des Teams, hockt in einem Meter Abstand vor ihr und spricht sie in ruhigem Ton an: »Carolin, dir geht es nicht gut, das kann ich sehen. Du wirkst wirklich verzweifelt. Gerade ist es sehr anstrengend für dich, hier zu sein. Am liebsten wärst du zu Hause. Kann ich etwas für dich tun?« Carolin schluchzt und dreht sich weg. Maria: »Bin ich zu nah bei dir?« Carolin nickt. Maria setzt sich mit zwei Meter Abstand auf eine der anderen Bänke: »Ist das so okay für dich?« Carolin dreht sich zurück und nickt mit dem Kopf: »So ist es gut.« Maria: »Ich bleibe einen Moment bei dir sitzen.« Carolin hört zu weinen auf. Maria: »Ich bin auch manchmal nicht gerne hier – wenn ich erschöpft bin, fällt es mir schwer. Das kenne ich gut. Geht es dir auch so?« Carolin nickt kurz. Nach einer Weile macht Maria ihr ein Angebot: »Ich werde jetzt nach den Kindern im Toberaum schauen. Wenn du magst, kannst du mich begleiten, wenn nicht, komme ich später wieder zu dir.«
Carolin bleibt auf der Bank sitzen und beginnt wieder zu weinen. Maria anerkennt Carolins Schmerz an und versucht, sich auf Carolin einzustellen. Sie spiegelt, was sie sieht, und fühlt mit ihr. Sie erkundet und akzeptiert den Raum, den Carolin ihr zugesteht, um sich mit Maria wohlfühlen zu können. Sie spricht von sich selbst, statt zu mutmaßen oder erklären zu wollen. Damit ist sie auf Augenhöhe mit Carolin. Sie respektiert Carolins Schmerz als etwas Notwendiges, als Teil eines Prozesses, der seine eigene Gesetzmäßigkeit hat. Sie will Carolin nicht allein lassen, aus dem Wissen heraus, dass Schmerz traumatische Folgen haben kann – insbesondere, wenn Kinder sich verlassen fühlen. Gleichzeitig übernimmt sie Verantwortung für andere Aufgaben. Sie will auch für die anderen Kinder präsent sein und vertraut auf die Qualität des Kontakts, den sie mit Carolin erlebt, deren Mutter gerade in einer menschlich belastenden Situation steckt.
Eine Frage der Einstellung?
Seit gut zwei Jahrzehnten experimentieren wir mit Haltungen und ihren Ausdrucksweisen. Etwa auf der Hälfte des Weges standen wir vor Konflikten, die nicht zu lösen waren. Das Team ging auseinander. Was hatten wir nicht verstanden? Nach intensiver Supervision wussten wir, dass der Bruch etwas mit »innerer« Arbeit zu tun hatte. Genauer gesagt, dass das Team auseinandergebrochen war, weil wir »innere« Arbeit vermieden hatten. Stattdessen hatten wir diskutiert – über Hierarchiefreiheit, die Notwendigkeit von Grenzen und Regeln, ethische und moralische Entwicklung bei Kindern – und uns um eine sinnhafte und auf die kindlichen Bedürfnisse abgestimmte Umgebung bemüht. Sie schien uns eine oder vielleicht sogar die wichtigste Voraussetzung für die Arbeit mit Kindern zu sein. Ich z.B. habe in den ersten Jahren der Gründung gearbeitet wie die Mutter eines Säuglings. Ich bin extrem über meine inneren Belastungsgrenzen gegangen und war der Meinung, dass das auch so sein muss. Fragen wie: Wie geht es mir? Was sind meine Bedürfnisse und persönlichen Grenzen? Welche inneren Annahmen und Muster aus meinen Kindheitserfahrungen prägen mein Fühlen und Handeln? Was will ich lernen und was habe ich bisher vermieden, genauer anzuschauen? Diese und ähnliche Fragen waren für uns nicht relevant.
Anja Niemand ist Mitgründerin des Kindergartens Wilde 9 in Guest bei Greifswald. Sie ist Mutter von drei erwachsenen Kindern, Bildhauerin, Pädagogin, Familienberaterin, Supervisorin und Seminarleiterin.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/2022 lesen.