Gemeinsamer Nenner oder Vielgestalt der Perspektiven
Bei aller Unterschiedlichkeit der Biografien, Erfahrungen und Vorstellungen vom Wohl des Kindes auf einen Nenner kommen: Geht das überhaupt? Die Erziehungswissenschaftlerin Caroline Ali-Tani sieht zwei Seiten der »Vielfaltsmedaille«. Sie beschreibt Auswirkungen, Gefahren und Chancen, die Kinder in alltäglichen Interaktionen mit der Vielfalt ihrer Bezugspersonen erleben.
Wann braucht es einen gemeinsamen Nenner und wann stellen verschiedene Perspektiven eine Ressource dar? Eine typische Situation, in der sich diese Frage stellt, ist die mit der Jacke. Ist es draußen schon warm genug? Ist es zu kalt, um die Kinder ohne Jacke rauszulassen? Viele Teammitglieder, viele unterschiedliche Empfindungen, wie ich es in folgender Situation erlebte:
Ich sitze mit der Erzieherin Anja L. im Gruppenraum für ein Interview. Die Kinder sind auf dem Außengelände. Durch das Fenster sehen wir plötzlich einen Jungen, der allein auf einer Bank sitzt und so sehr weint, dass wir es bis zu uns drinnen hören. Anja L. sagt zu mir: »Ach … jetzt hat meine Kollegin garantiert gesagt, er soll die Jacke anbehalten. Ich bügele das mal gerade, ja?« Sie steht auf und ich höre, wie sie den Jungen zu sich an die Tür ruft. Dort erzählt er ihr, dass die Erzieherin, die jetzt draußen Aufsicht hat, verbietet, dass er seine Jacke auszieht, obwohl die andere Erzieherin ihm dies vorher erlaubt hatte. Auf Anja L.s Frage, ob er der Erzieherin das nicht gesagt hätte, antwortet er: »Doch, aber sie hat es nicht geglaubt!« Wahrscheinlich weil wir mitten im Interview sind und die andere Erzieherin gerade nicht zu sehen ist, sagt sie zu dem Jungen: »Wir machen es jetzt so: Du lässt die Jacke an und wenn ich fertig bin und auch rauskomme, dann kannst du sie ausziehen!« Als sie wieder reinkommt sagt sie noch zu mir: »Ja … eigentlich sprechen wir uns schon gut ab, aber gut … jeder sieht das auch ein bisschen anders, ne? Aber jetzt ist alles wieder gut. Hoffe ich zumindest ...!«
Worum es geht
Ich finde nicht, dass nach einer solchen Situation »alles wieder gut« ist. Ich finde es vielmehr fatal, wie sehr Kinder in solchen und ähnlichen Situationen der Subjektivität Erwachsener ausgesetzt sind, und erschütternd, wie wenig Glauben ihren Worten geschenkt wird. Um Kindern nicht zu vermitteln, dass Entscheidungen auf subjektivem Empfinden beruhen und ständig neu in Erfahrung gebracht werden muss, wer gerade das Sagen hat, braucht es – gerade in solch alltäglichen Schlüsselsituationen – eine kindorientierte und kinderrechtsbasierte Pädagogik. Diese sollte sich dadurch auszeichnen, dass sie jedes Kind darin stärkt und unterstützt, seine Bedürfnisse, sein Empfinden, seine Gefühle und Interessen wahrzunehmen, einzuschätzen und zu benennen. Deshalb sollten wir uns darauf verständigen, ob wir Kindern zutrauen wollen, selbst zu wissen, wann ihnen kalt ist. Mit solch einem für alle praktikablen gemeinsamen Nenner würden wir Kindern mit einer bestärkenden, zu- und vertrauenden Haltung begegnen, statt ihr Empfinden zu unterdrücken. Es sollte nicht das Ziel sein, Kindern beizubringen denen zu gehorchen, die zum Beispiel gerade Dienst haben. In einer Beziehung zwischen Kindern und Erwachsenen, die grundsätzlich vom kompetenten Kind ausgeht, die respektvoll, hörend und fragend, verlässlich und zutrauend gestaltet wird, verschwinden die meisten »Scheinkämpfe« um Kleidung, Essen, Lautstärke und vieles mehr wie von selbst.
Viele Erwachsene: Viele Chancen?
Dass es von gemeinsamen Regeln zu einem gemeinsamen kindorientierten Nenner ein weiter Weg sein kann, wurde mir in folgender Situation bewusst: Ich bin zum Hospitieren in einer Kita und sitze im noch leeren Kinderrestaurant, in dem die Gruppen nacheinander zu Mittag essen. Es ist noch keine Erzieherin im Raum, aber einige der Kinder trudeln langsam ein. Ein Junge sieht mich, steuert direkt auf mich zu und sagt: »Ich mag das Essen nicht!« Ich bin zunächst etwas überrumpelt und sage, dass er doch nichts essen müsste. Zu mehr Austausch kommt es nicht, weil die Erzieherin den Raum betritt und das Mittagessen beginnt. Ich sehe, dass der Junge sich nichts nimmt. Die Erzieherin sieht es auch und sagt: »Ein bisschen essen wir, das kennst du!« Sie selbst isst eigenes Essen aus ihrer Brotdose. Ein Mädchen, das am selben Tisch sitzt, bestätigt ihre Worte: »Man muss was essen!« »Ja«, wiederholt die Erzieherin: »Er muss was essen!« In dieser Kita gibt es gemeinsame Regeln. Die Erwachsenen und die Kinder wissen, wie man sich am Tisch zu verhalten hat und auch, dass nach dem Essen in einer Schlange alle zum Zähneputzen gehen und sich dann zum Schlafen hinlegen. Die Situation mit dem Jungen erlebte ich als bedrückend. Er hatte mich nie zuvor gesehen. Es gibt immer wieder Kinder, die »unbekannten« Gesichtern mit Neugierde begegnen, aber normalerweise fragen sie »Wie heißt du?« oder »Was machst du hier?« Vielleicht war ich für den Jungen ein Anker und eine Hoffnung: Eine »neue« Erwachsene als Chance! Eine Chance, dass jetzt jemand da ist, der für mich eintritt? Eine Möglichkeit, Unterstützung zu bekommen? Wenn wir Vielfalt aus seiner Perspektive betrachten, bietet jedes neue Teammitglied eine große Chance, eingefahrene Muster zu durchbrechen, einseitige Perspektiven in eine andere Richtung zu lenken, Strukturen und Regeln, die »immer schon da waren«, neu zu verhandeln und das eigene Handeln sowie die Orientierungen im Team zu überprüfen. Zumindest wenn wir uns für dessen individuelle Persönlichkeit und Ansichten interessieren und öffnen.
Caroline Ali-Tani M.A. arbeitet als Erziehungswissenschaftlerin im Arbeitsbereich »Inklusive Pädagogik« insbesondere zu den Themen Partizipation und Kinderrechte in Kindertagesstätten, vorurteilsbewusste Bildung und Erziehung und Wahrnehmung von Vielfalt in der frühpädagogischen Praxis.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/2022 lesen.