Zusammenfinden durch Verständnis, Ermutigung und Dialog
In Betrifft KINDER 3-4/20 ging die Fachberaterin Marion Tielemann den Ursachen von Mobbing auf den Grund. Im voliegenden Gespräch mit der Redaktion widmet sie sich dem, was uns verbindet. Praxisnah beschreibt sie die pädagogische Haltung, aus der solide Brücken wachsen. Sie verstehen sich als pädagogische Brückenbauerin. Was meinen Sie damit und was treibt Sie an?
Ich liebe es, Brücken zu bauen! Brücken zu den Kindern und ihren Eltern, zu den PädagogInnen, aber auch zwischen Theorie
und Praxis. Wir brauchen Brücken, insbesondere weil wir in der heutigen Gesellschaft sozial und emotional unsicherer sind als je zuvor. Wenn wir uns den ganz normalen Alltag eines Kindes anschauen, sehen wir, dass Wesentliches zu kurz kommt. Sein Tag besteht aus eng getakteten Abläufen und es beschäftigt sich in seiner Freizeit zu viel mit sich allein bzw. mit dem iPad, Computer oder Fernseher. Durch die Berufstätigkeit beider Eltern verbringen immer mehr Kinder von klein auf immer mehr Zeit in Kindertageseinrichtungen – manchmal bis zu 50 Stunden in der Woche. Die Eltern stehen oftmals unter einem großen Druck, die Mehrfachbelastung Beruf, persönliche Bedürfnisse und Erziehung der Kinder gut hinzukriegen. Viele versuchen durch Nachmittagsangebote die Zukunftschancen ihrer Kinder bereits in frühen Jahren zu verbessern, andere wiederum empfinden oftmals mit schlechtem Gewissen das iPad etc. als akzeptierte Freizeitbeschäftigung.
Das Grundbedürfnis nach ungeplantem freien Spiel, sich also spontan mit anderen Kindern zu treffen und unbeobachtet unter sich zu sein, findet zu Hause, aber auch in den Kitas kaum noch statt. Kindern bleibt wenig Zeit, um gemeinsam zu spielen, zu planen, zu streiten, ins Gespräch zu kommen und Hindernisse zu überwinden. Welche Folgen hat das für ihre Entwicklung?
Das ist definitiv ein Bereich, in dem unser Auftrag, familienergänzend zu arbeiten, besonders gefragt ist. Mir fällt auch gleich ein tolles Beispiel ein, wo genau das gelingt: Jan ist Einzelkind und hält sich viel bei seiner »Vertrauenserzieherin« auf. Sie reden oft miteinander und sie bemerkt, dass Jan immer wieder die Kinder im großen Baubereich dabei beobachtet, wie sie Landschaften mit Tieren und Fahrzeugen bauen und dazu Geschichten entwickeln. Die Erzieherin weiß, dass Jan sich nicht traut, zu ihnen zu gehen. Er hat keine Erfahrungen im Spiel mit mehreren Kindern. Er beschäftigt sich lieber alleine. Andere Kinder anzusprechen ist für ihn ein großes Hindernis. Und dann baut sie ihm eine Brücke: Sie fragt ihn, ob er mit ihr in den Keller gehen möchte, um Materialien für den Baubereich zu holen, weil die Kinder bestimmt noch mehr Tiere gebrauchen können. Jan begleitet sie gern. Als sie kurze Zeit später mit einem kleinen Korb voller Tiere zurückkommen, fragt sie ihn, ob er die Tiere zu den Kindern bringen kann, weil eine Kollegin schnell mal ihre Hilfe braucht. Und dann geht sie.
Spannend! Die Erzieherin überlässt dem Kind die Entscheidung, ob es über die von ihr gebaute Brücke gehen möchte?
Ganz genau! Die Erzieherin baut eine imaginäre Brücke im Wissen, dass Jan eine ermutigende Erfahrung braucht und die nur dann hat, wenn er aus eigenem Impuls hinüber geht! Das Gefühl, es alleine geschafft zu haben, ist wichtig und würde sich nicht einstellen, wenn sie z.B. zu den anderen sagen würde: »Guckt mal, welche Tiere Jan für euch aus dem Keller geholt hat.« Weil sie genau das nicht sagt, spürt Jan, dass sie ihm zutraut, alleine über die Brücke zu gehen. Das ermutigt ihn und tatsächlich geht er mit dem Körbchen voller Tiere zu den Kindern hinüber. Diese wiederum spüren seine Anstrengung und seinen Mut. Kinder reagieren ja sehr sensibel aufeinander. Sie freuen sich über die Tiere und fragen Jan, ob er mitspielen will. Jan will!
Es hätte auch sein können, dass Jan nicht über die Brücke geht.
Ja, und das muss dann auch für die Erzieherin ganz in Ordnung sein: Wir sind für den Brückenbau zuständig und dann müssen wir uns zurücknehmen. Nicht immer gelingt unser Plan sofort. Nicht jede Brücke, die wir bauen, ist eine gute Brücke! Oder es war eine gute Brücke und Jan nutzt die nächstbeste Gelegenheit, um seine Unsicherheit, Angst und mangelnde Erfahrung zu überwinden. Oder, um im Bild zu bleiben: zu überbrücken. Entscheidend ist, dass er alleine über die Brücke geht, denn nur so spürt er, dass er es alleine geschafft hat.
Marion Tielemann ist Leiterin des Instituts für pädagogische Kompetenz, Fachberaterin, Reggio-Anerkennungsbeauftragte und individualpsychologische Kita- und Schulberaterin. Anfang der 1990er-Jahre gründete sie in Schleswig-Holstein die erste Modell-Werkstattkita.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 11-12/2020 lesen.