Gradmesser pädagogischer Qualität
Lernprozesse sind besonders intensiv, wenn sie mit einem hohen Grad an Interesse verbunden sind und wenn Kinder sich in ihrer Umgebung wohlfühlen. Doch wecken ehrgeizige und gutgemeinte pädagogische Angebote immer das Engagement von Kindern? Sabine Hebenstreit-Müller geht der Frage nach.
Eine Musikerin besucht eine Kita, um auf ihrer Geige Schuberts »Forelle« zu spielen. Die Kita-Leiterin hat sich ihrerseits auf ein festes Programm vorbereitet, in dem sie Regie führt und Schuberts Liedstrophen vorträgt. Dazu wird eine große Silberfolie ausgelegt, die einen Fluss darstellen soll. Die Kinder sollen Wellen darauf erzeugen und Sand aus einer großen Kiste auf der Folie ausgießen, um ein Flussbett nachzustellen. Die Musikerin hat die Aufgabe der musikalischen Untermalung. Die externen BesucherInnen sind begeistert von diesem aufwändigen Angebot.1
Zweifel kommen allerdings auf, wenn man den Blick auf die Kinder richtet, denen das häufig vergebliche Bemühen anzusehen ist, den raschen Wechseln des Programms zu folgen. Kommt das Angebot eigentlich bei den Kindern an, weckt es ihr Interesse? Werden Bildungsprozesse angeregt und erhalten die Kinder die Chance, ihre Fragen und Interessen einzubringen?
Vom Kind aus denken
Solche Fragen stehen im Mittelpunkt der Engagiertheitsskala, die im niederländischen Leuven entwickelt wurde. Der Blick wird verkehrt: von dem Tun der pädagogischen Fachkräfte, ihren pädagogischen Interventionen, auf das Kind. Pädagogische Qualität wird vom Kind her definiert: Gut sind solche Angebote und pädagogischen Settings, die das Wohlbefinden und die Engagiertheit der Kinder ermöglichen bzw. erhöhen. Kinder lernen am ehesten und bilden sich, wenn sie sich wohlfühlen und ganz bei sich und bei der Sache sind.
Dies zu ermöglichen ist die pädagogische Kernaufgabe. In Leuven wurde dem folgend ein kindzentriertes Beobachtungssystem entwickelt, das Kinder mit dem Fokus auf Wohlbefinden und Engagiertheit gezielt fördern und unterstützen soll. Die Leuvener Engagiertheitsskala bedeutet jedoch weit mehr als ein Beobachtungsverfahren. Damit verbunden ist ein grundlegender Wandel der Haltung und der Perspektiven auf das Kind.
In Deutschland wurde das Engagiertheitsmodell im Rahmen des von der Europäischen Kommission geförderten Projekts »Improving Early Childhood Education’s Quality« erprobt. Seit 1996 haben daran Ausbildungsstätten für ErzieherInnen aus insgesamt zehn Ländern teilgenommen.2 Die Skala hat auch Eingang gefunden in das Konzept der Bildungs- und Lerngeschichten und ist wichtiger Bestandteil des Early-Excellence- Ansatzes und eines Early Excellence Zentrums. Darüber hinaus wurde das Verfahren im Rahmen eines dreijährigen Pilotprojekts an Berliner Grundschulen erprobt und weiterentwickelt mit dem Ziel, die pädagogische Arbeit stärker am Kind auszurichten.3 Die Skala ist altersunabhängig und kann in der Frühpädagogik ebenso wie in der Schulpädagogik zur Anwendung kommen.
Das Lernen sichtbar machen
Ob sich Kinder wohlfühlen und engagiert in ihr Spiel vertieft sind, lässt sich beobachten. Es gibt wahrnehmbare Signale – Konzentration, Ausdauer, Ausdruck der Zufriedenheit etc. –, die Hinweise darauf geben, inwieweit Kinder ganz in ihrer Tätigkeit versunken sind oder ob sie eher abwesend sind und sich langweilen. Wenn vor allem junge Kinder den Eindruck vermitteln, in der Einrichtung noch nicht angekommen zu sein und sich dort nicht wohlzufühlen, so deutet dies darauf hin, dass sie sich noch nicht gebunden fühlen. Bildung braucht Bindung. Erst wenn Kinder sicher gebunden sind, sind sie bereit für Exploration.4
Der Grad der Engagiertheit und des Wohlbefindens des Kindes bei einer bestimmten Tätigkeit geben Hinweise darauf, wofür es sich interessiert, was es gern tut und wobei es ihm gutgeht. Wohlbefinden korrespondiert mit dem Gefühl, »sich zu Hause zu fühlen« und »man selbst sein« zu können.5 Kinder, die sich wohlfühlen, sind am ehesten bereit, sich offen auf ihre Umgebung einzulassen und Neues auszuprobieren. Negative Emotionen können die kognitive Entwicklung hemmen, während positive Emotionen die Kreativität und Aufnahmefähigkeit für neue Einsichten vergrößern.
Wohlfühlen kann man sich auf sehr unterschiedliche Weise. Die folgenden Anzeichen sind als Anhaltspunkte zu verstehen, die dabei helfen, das individuelle Ausmaß an Wohlbefinden bei Kindern einzuschätzen.6
Prof. Dr. Sabine Hebenstreit-Müller ist Diplompädagogin und Lehrerin, Sozialwissenschaftlerin und ist Honorarprofessorin an der Universität Halle-Wittenberg. Derzeit arbeitet sie als Organisationsberaterin, Evaluatorin und Weiterbildnerin.
Kontakt
www.paedagogik-hebenstreitmueller.de
1 Mohn B./Hebenstreit-Müller S. (2009): Unter Druck: Ein schönes Programm am Kind vorbei. In: Kinder Künstler Instrumente. Musik in der Kita (DVD 6). Kamera-Ethnographische Studien des Pestalozzi-Fröbel-Hauses Berlin. Göttingen
2 Laevers F./Heylen L. (2003): Involvement of children and teacher style: Insights from an international study on experiental education. Leuven
3 Hebenstreit-Müller, S. (2016): Beobachten und Talente entdecken: Die Bedeutung von Wohlbefinden und Engagiertheit in der pädagogischen Arbeit mit Kindern im Grundschulalter. Berlin
4 Viernickel S./Völkel P. (2009): Bindung und Eingewöhnung von Kleinkindern. Troisdorf, S. 13 f.
5 Heylen L./Laevers F. (2016): Die Bedeutung von Wohlbefinden und Engagiertheit. In: Hebenstreit- Müller S. (Hrsg). Beobachten und Talente entdecken: Die Bedeutung von Wohlbefinden und Engagiertheit in der pädagogischen Arbeit mit Kindern im Grundschulalter. Berlin
6 Vandenbusche E./Laevers F. (2009): Beobachtung und Begleitung von Kindern: Arbeitsbuch zur Leuvener Engagiertheitsskala. Erkelenz, S. 10 f.; sowie das Übungsvideo von Hebenstreit-Müller und Mohn (2014)
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/19 lesen.