Voraussetzungen für eine kultursensitive Pädagogik
Kultursensitive Pädagogik findet sich als Anspruch in vielen Kitakonzepten. Doch wie sieht es mit der Praxis aus? Die Entwicklungspsychologin und Autorin von »Mythos Bindungstheorie« Heidi Keller spricht im zweiten Teil des Interviews mit Jutta Gruber (Teil 1 siehe Betrifft KINDER 05-06/19) über Fragen zum Verhältnis von Kultur und Kontext, seriöser und unseriöser Forschung und den Voraussetzungen für eine kultursensitive Pädagogik.
Kultursensitive Pädagogik ist gefordert wie nie zuvor und fehlt in kaum einem Kitakonzept. Für die Umsetzung in der Praxis braucht es Ihrer Meinung nach mehr Information und Reflexion.
Das stimmt. Zwischen den elegant formulierten Ansprüchen »Vielfalt leben«, »Multikulturalität als Ressource« oder »Mehrsprachigkeit als Ressource« und der Realität klafft doch häufig eine große Lücke. Kultursensitive Praxis mit Familien und Kindern ist ein notwendiger Anspruch, der nur durch Information und Reflexion in Können umgesetzt werden kann. Deshalb sprechen Jörn Borke und ich in unserer Publikation Kultursensitive Frühpädagogik von der pädagogischen Trias: Wissen – Haltung – Können.
Bevor wir zu den Voraussetzungen kultursensitiver Pädagogik kommen. Wie definieren Sie Kultur?
Kultur bedeutet Werte und Normen, Haltungen und Verhaltenskonventionen. Bei diesen Orientierungen spielen Autonomie und Relationalität eine zentrale Rolle. Kultur ist nicht an Landesgrenzen gebunden, durch Religionen oder bestimmte Altersbereiche, wie z.B. Jugend, definiert.
Mit anderen Worten, die Orientierung nach dem Bedürfnis »Ich will Ich sein.« und die nach dem Bedürfnis »Ich will Wir sein.« ist zentral?
Ja, das betrifft die relationale Dimension, die Frage nach der sozialen Identität. Dazu kommt eine bestimmte Auslegung von Autonomie. Relationalität und Autonomie sind menschliche Grundbedürfnisse. Sie sind für jeden Menschen wichtig. Je nach kultureller Orientierung werden sie unterschiedlich definiert und zeigen sich unterschiedlich.
Warum sprechen wir von Kulturen, die Menschen voneinander unterscheiden statt von Grundbedürfnissen die Menschen miteinander teilen? Wenn wir uns darüber bewusst wären, dass jeder Mensch ein bisschen anders ist als alle anderen – vielleicht ebenso wie kein Mensch exakt dieselbe DNA hat oder eine bis ins letzte Detail übereinstimmende Hautfarbe –,bräuchten wir diesen Begriff vielleicht gar nicht?
Es gibt KollegInnen, die dieser Meinung sind. Es hängt davon ab, ob man eher an den Gemeinsamkeiten oder an den Unterschieden interessiert ist. Ohne ein Konzept zur Benennung der Unterschiedlichkeit kommt man aber nicht aus. Wenn man nicht »Kultur« sagt, muss man einen anderen Begriff dafür finden und der führt dann zu anderen Missverständnissen. Eine meiner israelischen Kolleginnen vermeidet den Begriff Kultur systematisch, sie spricht von Kontext – und sagt Verhalten ist kontextabhängig. Und das ist wiederum das, was ich unter Kultur verstehe. Ich denke, es ist wichtiger eindeutig zu benennen, was man unter Kultur versteht, statt den Begriff durch einen anderen zu ersetzen.
In »Kinderalltag. Kulturen der Kindheit und ihre Bedeutung für Bindung, Bildung und Erziehung« widmen Sie den Begriffen Kultur und Kontext ein ganzes Kapitel und erkennen beide als »untrennbare Allianz«. Was meinen Sie damit?
Ich verstehe Kultur als Repräsentation des Kontextes. Der Kontext beschreibt ein bestimmtes soziodemografisches Milieu, bestehend aus den Dimensionen des formalen Bildungsniveaus, dem Alter bei Geburt des ersten Kindes, der Anzahl der Kinder insgesamt und die Familienform, in der man lebt. Je nach Kontext sind bestimmte Erziehungshaltungen und bestimmte Entwicklungspfade der Kinder zu erwarten. Wenn ich z.B. eine hohe formale Bildung habe und Mitte/Ende 30 mein erstes von insgesamt zwei Kindern bekomme und in einer Kleinfamilie lebe, habe ich sehr wahrscheinlich andere Vorstellungen von den Entwicklungszielen meiner Kinder, als wenn ich 15 Kinder habe und in einer ultraorthodoxen Familie in Jerusalem lebe oder in einer Bauernfamilie südlich der Sahara.
Warum?
Unterschiedliche soziodemografische Profile sind an unterschiedliche Lebenskontexte angepasst. Wenn ich das Niveau der formalen Bildung anhebe, muss ich auch entsprechende Arbeitsplätze schaffen, sonst produziere ich erhebliche soziale Probleme. Familien mit vielen Kindern müssen anders organisiert sein, auch in ihren Beziehungsmustern, als die typische Kleinfamilie mit ein bis zwei Kindern. Interventionsprogramme basieren aber auf dem Bild der Kleinfamilie, das für große Familien dysfunktional ist – usw. Man könnte viele Beispiele mit erheblichen ethischen Implikationen aufführen. Zudem sind auch in jedem Land unterschiedliche kulturelle Kontexte zu erwarten. Wichtig ist, dass man nicht einen Kontext/eine Kultur als besser bewertet als andere. Diese vorherrschende Defizitorientierung richtet viel Schaden an.
Heidi Keller ist promovierte Kulturpsychologin, hatte einen Lehrstuhl für Kultur und Entwicklung in Osnabrück und ist Direktorin von Nevet an der Hebrew University in Jerusalem. Sie war Forschungsstellenleiterin bei nifbe und bekam in den letzten Jahren viele nationale und internationale Preise und Auszeichnungen für ihre Forschungen, zuletzt den von der Society for Research in Child Development für herausragende Beiträge zum Verständnis internationaler, kultureller und kontextueller Diversität in der kindlichen Entwicklung.
Kontakt
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 07-08/19 lesen.