Wie wir mit Kindern sprechen
Eine der alltäglichsten Handlungen des Menschen ist gleichzeitig eine seiner eindrucksvollsten Leistungen: Die Fähigkeit, Konversationen zu führen. Obwohl diese Fähigkeit universell ist, variiert die Art und Weise, wie Konversationen geführt werden stark nach Kulturkreis – jenachdem, wo wir leben und welche Normvorstellungen dort vorherrschen. Kinder lernen in Konversationen nicht nur linguistische Fähigkeiten (z.B. ein Vokabular und Grammatik) oder Informationen auszutauschen, sondern sie lernen auch kulturelle Normen: soziale Regeln innerhalb von Konversationen, aber auch allgemeine. In pädagogischen Einrichtungen treffen Familien zusammen, die unterschiedlichste kulturelle Hintergründe haben und somit auch unterschiedliche kommunikative Konventionen leben. Wie können diese im Kita-Alltag berücksichtigt werden, damit alle Kinder die Möglichkeit haben, von Unterhaltungen zu profitieren? Lisa Schröder hat sich die Dialoge zwischen Müttern und Kindern genau angeschaut und berichtet für Betrifft KINDER über ihre Forschung und persönlichen Erfahrungen.
Warum ist die menschliche Sprache besonders?
Alan Turing (1912–1954) war ein britischer Mathematiker und Informatiker, der einen großen Beitrag zur Entwicklung der Computertechnologie leistete. Er beschäftigte sich unter anderem mit künstlicher Intelligenz und entwarf den sogenannten Turing-Test (Turing, 1950). Mit diesem Test sollte geprüft werden, ob die künstliche Intelligenz von Computern an die der Menschen heranreichen kann. Es handelt sich bei diesem Test um einen Imitationstest, bei dem geprüft wird, ob ein Computer sich in solch einer Art und Weise an einem Dialog beteiligen kann, dass sein menschliches Gegenüber nicht merkt, dass er/ sie mit einem Computer anstatt mit einer anderen Person kommuniziert. Erst im Jahr 2014 gelang es einem Computerprogramm, die von Turing aufgestellten Bedingungen zu erfüllen (Warwick & Shah, 2016): Es täuschte ein Drittel der TeilnehmerInnen während eines fünfminütigen »Chatbots« – ein textbasierter Dialog am Computer. Wohlgemerkt war es dem Computerprogramm nur bei einem Drittel der TeilnehmerIn-nen möglich, diese zu täuschen und dies auch nur während eines fünfminütigen und textbasierten Dialoges. Je länger ein Dialog, desto schwieriger wird es für Computerprogramme, Menschen zu überlisten. Zwar schreitet die Entwicklung auch bei sprechender Assistenz-Software voran, trotzdem ist es Computern noch immer nicht möglich, uns über einen längeren Gesprächsverlauf in die Irre zu führen und schon gar nicht, wenn es darum geht, kulturspezifische Regeln wie z.B. Humor oder Ironie zu berücksichtigen.
Das bedeutet, dass die für uns alltägliche und selbstverständliche Handlung der Konversation auf einer enormen Basis von Wissen und Fähigkeiten beruht. Sie kann als eine der eindrucksvollsten kognitiven Fähigkeiten der Menschen betrachtet werden. Noch beeindruckender ist dabei, dass Kinder die nötigen Fähigkeiten in nur wenigen Jahren erwerben und bereits in den ersten Lebensjahren in der Lage sind, sich an Unterhaltungen zu beteiligen. Dieser Bereich der Sprachentwicklung, die erfolgreiche Beteiligung an Konversationen, wird als pragmatische Entwicklung bezeichnet. Um diesen pragmatischen Bereich der Sprachentwicklung soll es im Folgenden gehen. Insbesondere wird dabei in den Blick genommen, welche pragmatischen Regeln Kinder aus unterschiedlichen kulturellen Kontexten erlernen und in welchem Zusammenhang diese mit ihrer Entwicklung allgemein stehen.
Wie sprechen Eltern mit ihren Kindern?
Im Rahmen meiner Forschungstätigkeit beschäftige ich mich viel mit Unterhaltungen zwischen Müttern und ihren Vorschulkindern. Dabei interessiert mich insbesondere, wie sich Unterhaltungen je nach kulturellem Kontext unterscheiden. So hatte ich bereits die Möglichkeit, zusammen mit KollegInnen Unterhaltungen von Müttern und Kindern aus unterschiedlichen Regionen Kameruns, Indiens, Costa Ricas, Griechenlands, Estlands, Schwedens und Deutschlands zu untersuchen. Dabei wurde deutlich, dass sich im mütterlichen (aber auch väterlichen) Sprachstil kulturelle Normen und Werte widerspiegeln.
In vielen westlichen kulturellen Kontexten steht das Individuum und seine Einzigartigkeit im Mittelpunkt. Dies zeigt sich auch in elterlichen Entwicklungszielen: Ihnen ist es wichtig, dass ihre Kinder in den ersten Lebensjahren Unabhängigkeit sowie ihre eigenen Talente und Interessen entwickeln und lernen sich durchzusetzen (Keller, 2007; 2011; Keller et al., 2006). Autonomie ist somit das handlungsleitende Konzept (ebd.). Im Gegensatz dazu steht in den vielen nicht-westliche, meist ländlichen Kontexten nicht das Individuum, sondern die Gemeinschaft im Mittelpunkt. Hier wünschen sich Eltern für ihre Kinder, dass sie lernen, die Eltern und ältere Personen zu respektieren und ihnen zu gehorchen sowie soziale Harmonie zu erhalten. Verbundenheit ist somit das handlungsleitende Konzept (ebd.).
Diese kulturellen Orientierungen spiegeln sich auch in Unterhaltungen zwischen Eltern und ihren Kindern wider (z.B. Carmiol & Sparks, 2014; Leichtman et al., 2003; Melzi, 2000; Minami, 2001; Reese et al., 2008; Schröder et al., 2013; Wang, 2001; 2007), und zwar sowohl darin, wie sie sich mit ihnen unterhalten, als auch, worüber sie sich mit ihnen unterhalten.
Im Folgenden sind Transkripte von zwei Unterhaltungen zwischen Müttern und ihren dreijährigen Kindern aufgeführt, die aus einem Autonomie orientierten Kontext stammen (deutsche, städtische Mittelklasse-Familien):
Beispiel 1
Mutter: Wo wir im Schwimmbad warn. Was hat dir da so toll gefallen? (Pause)
Mutter: Mhm? Wo du von der Treppe rein gesprungen bist? Oder was hat dir am meisten gefallen beim Schwimmen?
Kind: Da wo ich gesprungen.
Mutter: Wo du alleine rein gesprungen bist?
Kind: Mhm.
Mutter: Oder wo die Mama dich hochgeworfen hat?
Kind: Wo du mich hoch.
Mutter: Ja.
Mutter: Am Anfang haste ein bisschen Angst gehabt, ne?
Kind: Wo?
Mutter: Im Schwimmbad, ne?
Kind: Mhm.
Mutter: Und wenn die anderen Kinder so spritzen – findste das gut oder nicht?
Kind: Äh-äh.
Mutter: Ne, ne?
Kind: Und einer hat schon mal Aa auf der Rutsche.
Mutter: Ja, hat der Aa auf der Rutsche gemacht. Hatte der keine Pampers an, ne. Und was fandste noch so toll? Was is da noch passiert?
Beispiel 2
Mutter: Weißt du noch. als wir mit der H. den Ausflug gemacht haben?
Kind: Wohin?
Mutter: In das Irrland.
Kind: Ja.
Mutter: Was hat denn dir da am besten gefallen?
Kind: Die Rutsche.
Mutter: Welche Rutsche?
Kind: Gab nur eine.
Mutter: Ne, es gab viele Rutschen, oder?
Kind: Die Teppich-Rutsche.
Mutter: Und wie rutscht man die noch mal?
Kind: Mit dem Papi.
Mutter: Mit dem Papi. Stimmt, haben wir gesagt, ne?
Kind: Warum hast du dich nicht getraut?
Mutter: Weil ich nicht so hoch die Treppen über das Gitter laufen wollte. Aber du hattest so viel Spaß dabei. Aber ich weiß auch noch die andere Rutsche.
Kind: Die Watte-Rutsche. Die Kleine war ganz schön schnell.
Mutter: Die war richtig schnell.
Kind: Und unten an Schiffen bin ich noch hochgesprungen.
Mutter: Ja.
Kind: Warum war die andere Rutsche lahm?
Mutter: Weil da mehrere waagerechte Stücke waren. Das ging ja gar nicht so steil runter.
In diesen Unterhaltungen wird das Kind aufgefordert, sich aktiv zu beteiligen, in-dem die Mutter viele offen Fragen stellt (sogenannte W-Fragen: Warum?, Wer?, Wo? Was? usw.) und kindliche Gesprächsbeiträge werden durch positive Rückmeldung bestätigt und bestärkt. Die Kinder liefern auch unaufgefordert Gesprächsbeiträge und stellen Rückfragen an die Mutter. Das Kind wird sozusagen als gleichwertiger Gesprächspartner behandelt. Auf der Inhaltsebene dreht sich die Unterhaltung um das ganz persönliche Erleben des Kindes und seine Vorlieben: Was es erlebt hat und wie es ihm damit ging, was ihm am besten gefallen hat, was ihm nicht gefallen hat usw. Es wird also auf beiden Ebenen (dem Wie und dem Worüber) die Autonomie und Individualität des Kindes be-tont und gefördert. Für Konversationen lernt das Kind deshalb, dass es erwünscht ist, sich aktiv einzubringen und seine eigene Meinung und Sichtweise zu vertreten. Auf sozialer Ebene wird dem Kind vermittelt, dass Erwachsene ihm auf Augenhöhe begegnen und dass seine Individualität bedeutsam ist. Dies entspricht dem elterlichen Entwicklungsziel der Autonomie.
Im Folgenden sind nun die übersetzten Transkripte von zwei Mutter-Kind- Unterhaltungen aus einem an Verbundenheit orientierten Kulturkreis aufgeführt (kamerunische Familien einer ländlichen Gegend):
Beispiel 1
Mutter: Erinnerst du dich noch, als wir ernten gingen? Hinter Marys Haus?
Kind: Mhm.
Mutter: Wir gingen dort hin, und was haben wir gemacht?
Kind: Wir haben Gemüse geerntet.
Mutter: Habt ihr geerntet.
Kind: Mhm.
Mutter: In was habt ihr es reingetan?
Kind: In einen Eimer.
Mutter: Und wo habe ich meine Ernte reingetan?
Kind: In einen Eimer.
Mutter: Was haben wir dann damit gemacht?
Kind: Wir haben es aufgehoben.
Mutter: Aufgehoben und was haben wir dann damit gemacht? Nimm die Finger aus dem Mund. Wir haben es aufgehoben und was damit gemacht?
Kind: Mhm?
Mutter: Wir haben es aufgehoben und was damit gemacht?
Kind: Mhm?
Mutter: Und haben es gekocht.
Beispiel 2
Mutter: Erinnerst du dich noch an Amarija (Name) aus Kijah (Ort)?
Kind: Mhm.
Mutter: Erinnerst du dich an Amarija aus Kija?
Kind: Mhm.
Mutter: Kam sie hierher?
Kind: Mhm.
Mutter: Sie kam und hat was gesagt? Sie kam und hat was gemacht? Sie kam und sagte, dass ihr was machen werdet?
Kind: (flüstert)
Mutter: Dass ihr was machen werdet? Sag es laut. Sie sagte, dass ihr was machen werdet?
Kind: Dass wir nach Kijah hochgehen.
Mutter: Und dass sie dir was gibt? Und was mit dir macht? Du hast Mirama gesehen, nicht?
Kind: Mhm.
Mutter: Und Großvater.
Kind: Mhm.
Mutter: Und was hat er gesagt?
Kind: Und Njako gesehen.
Mutter: Und was hat er gesagt? Was macht Großvater immer mit dir?
Kind: Er nimmt mich auf dem Motorrad mit.
Mutter: Und wo seid ihr hingefahren? Ihr seid auf das Motorrad geklettert und seid wo hingefahren? Auf der Straße.
Kind: Mhm.
In diesen Beispielen gibt die Mutter ganz klar vor, wie das Gespräch gestaltet wird. Die Mutter wiederholt eigene Fragen mehrfach, wenn das Kind nicht antwortet und sie stellt mehr geschlossene Ja-Nein-Fragen, die das Kind mit »mhm« bestätigt (insbesondere in Beispiel 2). So zeigt das Kind, dass es aufmerksam ist und zuhört. Auf der Inhaltsebene geht es vorrangig um Soziales, nämlich darum, was andere Personen oder das Kind gemeinsam mit anderen Personen gemacht hat (»ihr«, »wir«). Persönliche Meinungen, z.B. wie es ihm gefallen hat, werden nicht besprochen. Hier wird auf beiden Ebenen (dem Wie und dem Worüber) vermittelt, dass das Kind sich als Teil einer Gemeinschaft erlebt, in die es sich einzuordnen hat. Für Konversationen lernt das Kind, dass es sich in Unterhaltungen mit Erwachsenen dann einbringt, wenn es dazu aufgefordert wird und inhaltlich ein sozialer Fokus erwünscht ist. Auf sozialer Ebene wird dem Kind vermittelt, dass es gegenüber Erwachsenen Gehorsam zu leisten hat und dass es Teil einer Gemeinschaft ist, die an erster Stelle steht. Dies entspricht dem elterlichen Entwicklungsziel der Verbundenheit.
Es sei an dieser Stelle erwähnt, dass es eine Varianz im Sprachstil innerhalb von kulturellen Kontexten gibt, was auch die jeweiligen Beispiele verdeutlichen. Außerdem spiegeln die Beispiele Extreme wider. Es gibt auch kulturelle Kontexte (z.B. nicht-westliche Mittelschicht-Familien in Costa Rica oder Indien), in denen die Sprachstile in Mischformen auftreten, indem zwar viel über andere Personen gesprochen, aber auch auf das individuelle Erleben des Kindes eingegangen wird (Schröder et al., 2013).
Dr. Lisa Schröder ist Professorin für Kindheitspädagogik an der Hochschule Magdeburg-Stendal und lehrt dort zu entwicklungspsychologischen und pädagogischen Themen. Ihr Forschungsschwerpunkt liegt auf kulturvergleichenden entwicklungspsychologischen Fragestellungen und deren Anwendungsbezüge für die pädagogische Praxis.
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Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 09-10/18 lesen.