Schon bei früheren Aufenthalten im Kameruner Grasland hatte ich erstaunt und begeistert die vielen Babys und Kleinkinder auf dem Rücken von oftmals gar nicht so viel älteren Kindern beobachtet und mich gefragt, wie dieses Betreuungssystem so ganz ohne Erwachsene funktioniert. Doch nun, da ich mit meiner Familie für ein längeres Forschungsprojekt wieder vor Ort war, erlebte ich es hautnah. Meine beiden Mädchen (4 und 1,5 Jahre alt) waren draußen zum Spielen. Ich hatte sie seit Stunden nicht gesehen und wusste weder genau, wo sie waren noch was sie taten. Aber ich war sicher, sie waren mit der großen Gruppe von Kindern der ganzen Straße unterwegs und sie würden vor Einbruch der Dunkelheit heil zurückkommen, die Kleine vermutlich auf dem Rücken der 9-jährigen Nachbarin.
Geschwister halten die Gesellschaft zusammen
Mit der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres wachsen Babys und Kleinkinder im Nordwesten Kameruns in altersgemischten Geschwistergruppen auf und begleiten ihre älteren Geschwister bzw. familiären Babysitter bei deren alltäglichen Aktivitäten – eine Praxis, die in vielen kulturellen Gemeinschaften südlich der Sahara und in Ozeanien dokumentiert wurde, z.B. bei den Kwara’ae auf den Solomon-Inseln1, den Mandinka im Senega2, den Gusii in Kenia3, den Beng von der Elfenbeinküste4 oder den Ifaluk in Mikronesien5. Geschwisterbeziehungen – und dieser Begriff umfasst hier nicht nur biologische Geschwister, sondern schließt Cousins und Cousinen, Halb- oder Stiefgeschwister, gleichaltrige Tanten, Onkel, Nichten und Neffen mit ein6 – stellen in diesen an Verbundenheit orientierten Gemeinschaften einen wichtigen Baustein zur Eingliederung des einzelnen in die hierarchischen Strukturen der Gemeinschaft dar. Die Geschwister werden lebenslang aufeinander angewiesen sein, um wirtschaftliches Auskommen und familiäres Überleben zu gewährleisten. Ihre Beziehung unterliegt strengen normativen Regeln und sie teilen die Verantwortung für die Eltern sowie die knappen Ressourcen. Bereits in der Kindheit werden wichtige Rollenfunktionen der Gemeinschaft in den Geschwisterbeziehungen trainiert. Die älteren Geschwisterkinder lernen, Autorität auszuüben, Fürsorge und Verantwortung für die Gemeinschaft zu übernehmen und kulturelle Werte und Normen zu vermitteln. Die Jüngeren lernen sich anzupassen und Autorität zu akzeptieren.
Geschwister als Lehrer und Bindungsperson
Die Betreuung durch Geschwisterkinder liefert in traditionellen, bäuerlichen Kontexten den Müttern den nötigen Freiraum, ihre hohe Arbeitslast auf dem Feld und im Haushalt zu bewältigen. Aber diese Betreuungsform bedeutet weit mehr als die reine Befriedigung grundlegender physiologischer Bedürfnisse der Jüngeren. Beispielsweise erleben Mandinka-Babys im Senegal mehr soziale Interaktionen mit ihren Babysittern als mit den Müttern oder Großmüttern. Bei den Nso in Kamerun berichten einige Mütter, dass die Geschwister das Baby oder Kleinkind besser kennen würden als sie selbst und dass das Kleinkind in bedrohlichen Situationen eher die Nähe der Geschwister und nicht der Mutter suchen würde7. Wie groß die Bedeutung von Geschwistern für das Lernen in spezifischen Bereichen ist, verdeutlicht das Erlebnis einer Kollegin, die im ländlichen Gujarat in Indien arbeitete. Im Rahmen der Befragung einer Mutter zu den sprachlichen Fähigkeiten ihres erstgeborenen, etwa eineinhalbjährigen Jungen, stieß sie auf völliges Unverständnis der Mutter, die mit der irritierten Gegenfrage, wie der Junge denn ohne Geschwister sprechen lernen solle, reagierte.
Ungenutzte Ressourcen
Natürlich dienen Geschwister auch in der westlichen Mittelschicht als Vorbilder, helfen einander, geben sich Sicherheit, lernen voneinander bzw. in der Auseinandersetzung miteinander. Jedoch geschehen diese Ereignisse eher zufällig und die enormen Kompetenzen von Geschwistern scheinen in der westlichen Mittelschicht ungenutzt bzw. nicht systematisch eingesetzt. Im Fokus der westlichen Erziehung stehen die Entwicklung von Unabhängigkeit und Einzigartigkeit, Durchsetzungsfähigkeit und die Kompetenz, eigene Gefühle und Bedürfnisse klar auszudrücken8. Zur Gestaltung von Geschwisterbeziehung gibt es keine normativen oder strukturellen Vorgaben9. Es liegt vielmehr im individuellen Ermessen der Geschwister, ob und wie viel sie miteinander zu tun haben wollen. Eine Altershierarchie in der Geschwistergruppe widerspricht dem egalitären Erziehungsstil und wird nicht unwidersprochen akzeptiert, wie sich in der folgenden Anekdote zeigt: Die in Deutschland lebende Tochter einer deutschen Mutter und eines gambischen Vaters unternahm die erste Reise in die Heimat und zur Familie ihres Vaters. Nach der Rückkehr berichtet die 9-Jährige von ihren Eindrücken und Erfahrungen: »Ja, es war toll, aber was ich überhaupt nicht mochte, war, dass die [dort lebende Cousins und Cousinen] immer über mich bestimmen wollten. Sie haben immer gesagt, wie ich was machen soll und was ich nicht machen soll, obwohl die nur ein paar Monate älter als ich waren.«
Geschwister in der Kita
Die Gestaltung von Geschwisterbeziehungen wird also maßgeblich von der jeweiligen kulturellen Umgebung mit ihren sozioökonomischen Bedingungen und Wertvorstellungen beeinflusst. Geschwisterbeziehungen ihrerseits prägen aber auch das Familienleben und darüber hinaus das Zusammenleben in der kulturellen Gemeinschaft. In der Kita treffen diese familiären Geschwisterkulturen auf die institutionelle Kita-Kultur. Die meisten Kitas unterstützen die Erziehungsvorstellungen der westlichen Mittelschicht10. Auch hier werden Autonomieentwicklung, Selbstbewusstsein und Entscheidungsfähigkeit sowie die Entwicklung individueller Talente und Interessen sehr gefördert. Soziale Kompetenzen beziehen sich auf das Aushandeln von Beziehungen sowie die Entwicklung von Empathie und Perspektivenübernahme. Geschwisterkinder werden häufig in unterschiedliche Gruppen aufgenommen, um jedem einzelnen Kind individuelle Erfahrungen und Entwicklungsräume, eigene Sozialkontakte und Freunde zu ermöglichen.
Kulturelle Offenheit
Bei der Aufnahme von Kindern mit Migrations- oder Fluchthintergrund in der Kita stellt sich die Herausforderung, die kulturellen Erfahrungen der Kinder und die Werte der Familie zu respektieren, in besonderem Maße. Das bedeutet unter Umständen, dass bewährte und pädagogisch begründete Vorgehensweisen hinterfragt werden müssen. Die pädagogische und entwicklungspsychologische Forschung bezieht sich zu 95 Prozent auf westliche Mittelschichtkinder und wird von WissenschaftlerInnen dieses Kulturkreises durchgeführt11. Was jedoch für diese Zielgruppe gut funktioniert und entwicklungsförderlich ist, ist für Kinder mit anderen kulturellen Erfahrungen nicht in gleichem Maße anschlussfähig. Daher sind die folgenden Aspekte als Empfehlungen oder Reflexionsanstöße für den kultursensitiven Umgang mit Geschwisterkindern in der Kita zu verstehen.
Familiäre Betreuungsroutinen erfragen
Im Rahmen des Aufnahmegespräches werden Informationen bezüglich der wichtigsten Betreuungs- und Bezugspersonen erfragt und welche Rolle Geschwisterkinder möglicherweise dabei spielen. Je nach familiären Gegebenheiten können die entsprechenden Personen in den Eingewöhnungsprozess eingebunden werden und beispielsweise auch ältere Geschwisterkinder die Eingewöhnung begleiten.
Nicht trennen, was zusammengehört
Wenn Geschwisterkinder in ihrem familiären Alltag quasi immer zusammen sind, kann die Trennung vom Bruder oder der Schwester eine unnötige zusätzliche Belastung in der ohnehin fremden Kita-Umgebung mit ihren ungewohnten (kulturellen) Regeln und möglicherweise auch einer neuen Sprache darstellen. Warum sollte man nicht zulassen, dass Kinder gemeinsam mit dem Geschwisterkind mehr Sicherheit erleben und sich dadurch auch viel leichter auf das Gruppengeschehen einlassen und in der Kita ankommen?
Familiäre und kulturelle Werte akzeptieren
Es gibt nicht die eine richtige Art und Weise, Kinder zu erziehen. Daher ist es nötig, sich immer wieder bewusst zu machen, dass der Fokus auf das einzelne Kind und seine individuelle Entwicklung dem westlichen Mittelschichtmodell von Erziehung entspricht. Eltern mit anderen kulturellen Hintergründen ist es möglicherweise viel wichtiger, den familiären Zusammenhalt zu fördern und die damit verbundenen Rollen und Verantwortungen zu trainieren, wie das folgende Beispiel verdeutlicht:
Die Erzieherinnen in einer altersgemischten Ein-Gruppen-Kita waren sehr besorgt um die Entfaltungsmöglichkeiten zweier Geschwisterkinder. Die jüngere Schwester (knapp 3 Jahre alt) suchte in ihren Augen zu oft die Nähe der Älteren und störte sie beim Spiel mit den gleichaltrigen Freundinnen. Andererseits bestimmte die ältere Schwester (5;5 Jahre alt), ihrer Meinung nach, viel zu oft über den Kopf der Jüngeren hinweg und ließ ihr gar keinen Entscheidungsspielraum. Darauf angesprochen, reagierten die Eltern sehr irritiert, waren sie doch sehr zufrieden mit der Entwicklung ihrer Kinder.
Offenheit und Verständnis
Ein solcher Konflikt zwischen den Erziehungszielen der ErzieherInnen (autonomiegetragene Entwicklung individueller Interessen und Freundschaften) und der Eltern (Übernahme fürsorglicher Verantwortung der Älteren für die Jüngere und Akzeptanz der Autorität der Älteren durch die Jüngere) ist mitunter schwer aufzulösen. Es braucht offenen und wertschätzenden Austausch, um wechselseitiges Verständnis für die Sichtweisen des jeweils anderen zu entwickeln.
Verschiedene Gesichter der Autonomie wahrnehmen
Vielleicht erst auf den zweiten Blick, kann man dann wahrnehmen, dass der Widerspruch gar nicht so unüberwindlich ist. Steckt doch auch in dem fürsorglichen Verhalten sehr viel kindliche Autonomie, wenn unaufgefordert das Richtige im richtigen Moment getan wird. Nur handelt es sich hierbei eher um eine handlungsbezogene Form der Autonomie und nicht so sehr die psychologische Autonomie im Sinne eigener Entscheidungen auf Basis persönlicher Vorlieben, Wünsche und Gefühle.
Geschwisterrolle als Identitätsmerkmal wertschätzen
Nicht nur den Eltern gegenüber, sondern auch im Kontakt mit den Kindern ist diese respektvolle, diversitätssensible Haltung gefragt. Die in der Geschwisterbeziehung erlebte Rolle als kleine Schwester oder großer Bruder ist Teil der kindlichen Identität, deshalb muss sie auch Raum in der Kita finden. Gemäß der Rolle zu handeln, kann Sicherheit vermitteln und Kompetenzerleben ermöglichen. Dennoch stellen diese Rollen keine Festlegungen dar, denn gerade der Kita-Kontext bietet die Möglichkeit, auch mal andere Rollen auszuprobieren und kennenzulernen. So kann die kleine Schwester hier auch erleben, mal die Große, also die erfahrenere und kompetentere Partnerin in einer Spielgruppe zu sein.
Dr. Bettina Lamm ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Universität Münster mit Forschungsschwerpunkt auf frühkindlicher Entwicklung und Sozialisationsstrategien im kulturellen Kontext. Autorin vieler wissenschaftlicher Veröffentlichungen und Beiträge für die Praxis, u.a. von »Handbuch Interkulturelle Kompetenz. Kultursensitive Arbeit in der Kita«, Freiburg 2017.
Kontakt
1 Watson-Gegeo K. A. & Gegeo D. W. (1989): The Role of Sibling Interaction in Child Socialization. In: Zukow P. G. (Hrsg.): Sibling Interaction Across Cultures. New York, S. 54–76
2 Whittemore R. D. & Beverly E. (1989): Trust in the Mandinka Way: The Cultural Context of Sibling Care. In: Zukow P. G. (Hrsg.): Sibling Interaction Across Cultures. New York, S. 26–53
3 LeVine R. A., Dixon S., LeVine S., Richman A., Leiderman P. H., Keefer C. H., & Brazelton T. B. (1994): Child care and culture: Lessons from Africa. Cambridge
4 Gottlieb A. (2004): The Afterlife Is Where We Come From. The Culture of Infancy in West Africa. Chicago
5 Le H.-N. (2000): Never Leave Your Little One Alone. Raising an Ifaluk Child. In: DeLoache J. & Gottlieb A. (Hrsg.): A World of Babies. Imagined Childcare Guides for Seven Societies. Cambridge, S. 199–220
6 Cicirelli V. G. (1994): Sibling relationships in cross-cultural perspective. In: Journal of Marriage & Family, Bd. 56, S. 7–14
7 Nsamenang A. B. (1992): Early Childhood Care and Education in Cameroon. In: Lamb M. E., Steinberg K. J., Hwang C.-P. & Broberg A. G. (Hrsg.): Child Care in Context. Hillsdale, S. 419–439
8 Keller H. (2011): Kinderalltag. Berlin
9 Bank S. P. & Kahn, M. D. (1989): Geschwister-Bindung. Paderborn
10 Bossong L. (2016): Kulturell divergierende Vorstellungen von Erziehung, frühkindlicher Bildung und Betreuung in deutschen Kindertageseinrichtungen. Die Perspektiven von pädagogischen Fachkräften und von Müttern aus unterschiedlichen ökosozialen Kontexten. https://repositorium.uni-osnabrueck.de, Suche unter Autorinnennamen
11 Henrich J., Heine S. & Norenzayan A. (2010): The weirdest people in the world? In: Behavioral and Brain Sciences, Bd. 33, S. 61–135
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03-04/18 lesen.