Mahlzeiten kultursensibel gestalten
Wie wir essen, schlafen, spielen, sprechen, zeichnen, unsere Beziehungen gestalten – all das ist kulturell geprägt und damit alles andere als allgemein verbindlich. Kultur ist die Art und Weise, wie Menschen lernen, ihre Bedürfnisse zu befriedigen – und das ist sehr verschieden. Immer wenn wir behaupten: »So ist das eben«, können wir davon ausgehen, dass andere Menschen es anders leben. Deshalb widmet sich Betrifft KINDER in einer neuen Serie mit den kulturellen Aspekten im Kitaalltag. Den Auftakt gibt Kariane Höhn zur kultursensibelen Gestaltung von Mahlzeiten.
Drei Monate hatte ich die Möglichkeit, in einem Projekt der Entwicklungszusammenarbeit die südindische Kitaarbeit des Christlichen Missionsdienstes kennenzulernen – ein interkulturelles Trainingslager, auch beim Thema Essen. Die vier Finger der rechten Hand leicht gewölbt, den Daumen als Gegenspieler im Einsatz esse ich bereits zum ersten Frühstück Reis und ein flüssig anmutendes Gemüsecurry. Dabei sollte ich nicht gerade sitzen und die Hand zum Mund führen. Nein, gebeugt sitzt man und aus dem Gemüse, der Soße und dem Reis sollte ich wie die anderen einen Ball kneten Die zu Hause üblichen Konventionen musste ich über Bord werfen, um in der neuen Gemeinschaft adäquat Teil haben zu können.
Die Hand als Helfer
Es schmeckt anders aus der Hand. All die fremden Speisen erfasse ich in ihrer Beschaffenheit und Temperatur zuerst, ehe ich sie in den Mund schiebe. Ich rieche sie viel unmittelbarer und überlege, ob ich die Nahrungsmittel schon einmal gegessen habe. Karotten, rote Beete, Auberginen – alles scheinbar bekannt. Denkste! Es schmeckt ganz anders mit Masala, Ingwer, Ladyfinger und Curry Leaves und frischen Kräutern. Alle Speisen haben auch durch die andere Zubereitung eine vollständig andere Konsistenz.
Die Hand half mir sprichwörtlich, das ungewohnte Essen handhabbar und begreifbar zu machen. Was blieb war die Spannung, ob es mir schmeckt und ob ich satt werde. Im Zweifelsfall gab es Reis und Banane – denn kaufen konnte ich mir in den ersten Tagen meines Aufenthalts nichts. Als hellhäutige Frau war es mir nicht möglich, unbegleitet den Weg in den nahegelegenen Ort zu einer der vielen Buden zu laufen. Dort hätte ich außerdem vor Gläsern mit Gebackenem gestanden und gerätselt, ob der Inhalt salzig oder süß sei. Ganz abgesehen davon, dass ich nicht sicher hätte sein können, ob mein deutscher Magen das Angebot vertragen würde. Die drei Monate Aufenthalt in Südindien prägten meinen Blick auf eine kultursensible Begleitung von Mahlzeiten so entscheidend, wie ich es mir zuvor nie vorstellen konnte.
Zwei Jahren später bin ich wieder in Indien. Mit einem Mal genieße ich wie selbstverständlich die andere Art zu essen. Da scheint sich in mir eine neue Esskultur entwickelt zu haben. Unglaublich. Und wieder riecht meine Hand dort nach Gewürzen, was ich in Deutschland schwer ertragen würde.
Essen hält Leib und Seele zusammen
Diese Volksweisheit bringt den Auftrag an Kita auf den Punkt, die Lebensaktivität Essen und Trinken als Bildungsangelegenheit zu verstehen. Jede und jeder erfährt es täglich sprichwörtlich am eigenen Leib, wie gutes Essen sowohl dem Wohlbefinden wie auch der Leistungsbereitschaft dient. Essen und Trinken bestimmt neben Ruhen, Schlafen und Bewegen maßgeblich das Regulations- und Regenerationsverhalten. Erwachsene wissen zumeist, wann ihnen was guttut. Wie unterschiedlich das sein kann, zeigt sich z.B. am Essverhalten in Stresssituationen. Die einen essen schnell und viel. Sie einverleiben sich Energie. Den anderen bleibt »der Brocken im Hals stecken«, im Stress können sie kaum essen. Die einen greifen zu Süßem und Fettem, der Basis des Urlebensmittels, das wir mit der Muttermilch kennengelernt haben. Andere bevorzugen etwas Frisches, um damit ihren Haushalt an Spurenelementen auszugleichen. Die große Individualität allein im Essverhalten ist endlos.
Erwachsene haben in ihrer vertrauten Umgebung in der Regel einen uneingeschränkten Zugang zu ihren »Wohlfühllebensmitteln«; sie sind quasi Selbstversorger und Experten ihrer eigenen Ess-Geschichte. Damit wappnen sie sich ganz selbstverständlich, um gut durch den Tag zu kommen. Was aber passiert, wenn ihnen in einem anderen Kulturkreis der selbstverständliche Zugang zu vertrauten Lebensmitteln eingeschränkt ist? Wie fühlen sie sich, wenn es andere Gerichte, andere Gerüche, andere Esswerkzeuge gibt? Es ist wert, sich kleine, alltägliche Fremdheitserfahrungen beim Essen wach zu halten, um Kinder responsiv und achtsam bei ihren Mahlzeiten begleiten zu können.
Der Mensch ist was er isst
Kinder sind erst auf dem Weg, EsserInnen in einem Kulturkreis zu werden. Sie wachsen in die Pflege- und Essroutinen ihrer Familie hinein. Selbstverständlich werden da kulturelle Botschaften vermittelt und Kulturfertigkeiten eingeübt, ohne sich dessen konkret bewusst zu sein1. Das »Bei-uns-is-das-so« unterstreicht Vertrautheit, Routine und Selbstverständlichkeit – wichtige Aspekte der Identitätsentwicklung. Durch kulturelles Lernen erwerben Kinder ein Gefühl von Zugehörigkeit und Sicherheit in dem Wissen, wer sie sind und wo sie herkommen. In der Gestaltung von Fütterinteraktionen lässt sich dies bereits gut erkennen. Neben der ethnischen Zugehörigkeit wirken außerdem die im jeweiligen Kulturraum spezifischen, natürlich zugänglichen Nahrungsmittel auf die Esskultur eines Kindes ein. Die Schichtzugehörigkeit und das Bildungsniveau der Familie sind weitere entscheidende Faktoren. Essen steht also nicht nur für Nahrung im engeren Sinn, sondern überträgt auch damit verbundene Gedanken, Gefühle und Beziehungen.2
Essenlerner in der Kita
Kinder im Kitaalter sind keine Selbstversorger. Sie sind noch nicht in der Lage, sich die ihnen vertrauten Nahrungsmittel zu organisieren. Was bedeutet es für sie, sich in einer ihnen unbekannten Essumgebung einzufinden? Sich vielleicht ausgeliefert zu fühlen, Hunger und Durst mit unbekannten Speisen beantworten zu müssen und nicht zu wissen, »wann das wieder aufhört«? Ich schlage drei Kompetenztypen vor, um zu verdeutlichen, wie vielfältig die Ausgangslagen beim Essen für Kinder sind.
Da sind erstens die »Essenlerner«, die neu in die Kita kommen und noch auf dem Weg sind, ein Esser, eine Esserin zu werden. Manchmal ist bei ihnen die Umstellung vom Brei- zur Familienkost noch nicht abgeschlossen. Sie kennen erst wenige Speisen ihrer Kultur. Sie sind emotional wie motorisch noch nicht in der Lage, sich allein zu bedienen und eine Mahlzeit genussvoll und sättigend zu bestreiten.
Zweitens gibt es die »Essenkönner«. Sie essen selbstständig und genussvoll in ihrer Kulturfertigkeit und kennen schon die verschiedenen Speisen in ihrer Esskultur. Möglicherweise wissen sie auch bereits, wie wichtig eine ausreichende und ausgewogene Ernährung (mit den Lebensmitteln ihrer Kultur) ist, um fit zu sein und sich wohlzufühlen, und sie wissen um die Lebensmittel, die ihnen Wohlbefinden ermöglichen.
Drittens gibt es die »Essenkennenlerner«. Das sind die Kinder, die neu in die Kita kommen, schon viele Speisen kennen – aber nur die ihrer Kultur. Sie stehen vor der Herausforderung, neue Speisen kennenzulernen und diese in einem ihnen neuen Rahmen, in einer neuen Tischgemeinschaft und vielleicht auch mit ihnen noch unbekannten Kulturfertigkeiten einzunehmen. Eventuell ist es ihnen sprachlich noch nicht möglich, diese Spannung zwischen Vertrautem und Fremdem zu beschreiben.3 Kinder mit Migrationshintergrund und/oder Fluchterfahrung gehören der Gruppe der Essenkennenlerner an. Im weiteren Sinn aber auch jedes Kind, das neu in die Kita eintritt und die Kita-Kultur des Essens erst einüben muss.
1 Gonzales-Mena, J., Widmeyer-Eyer, D. (2008): Säuglinge, Kleinkinder und ihre Betreuung, Erziehung und Pflege. Arbeitsbuch zum Curriculum, Freiamt: Arbor.
2 Punch, S., Emond, R., McInstosh, I., Lightowler, C. (2016): Children, Food and Care Research in Täubig, V. (Hrsg.). Essen im Erziehungs- und Bildungsalltag. Weinheim, Basel, Beltz Juventa S. 16
3 Höhn, Kariane (2017): Essen bildet! Mahlzeiten als Lernsetting entdecken. Freiburg, Herder S. 1
4 Dorothee Gutknecht, Kariane Höhn (2017). Essen in der Kinderkrippe; achtsame und konkrete Gestaltungsmöglichkeiten, Freiburg, Herder
5 Höhn, K., Lutz, C. (2014): (meine Art zu) Essen, hält (meinen) Leib und Seele zusammen – Impulse zur Entwicklung eines interkulturellen Diskurses am Bildungsort Mahlzeit. Workshop auf der 6. Bundesweiten Fachtagung: Netzwerk Fortbildung: Kinder bis drei. EH Freiburg, 19.-21.03.2014.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/18 lesen.