Eine Analyse sozialer Interaktionen von Kleinkindern
Seit dem Ausbau der Betreuungsplätze für Unterdreijährige steht die Qualität der Betreuung stark im Fokus. Vor allem den Interaktionen zwischen Kleinkindern und ihren BezugserzieherInnen wird eine große Bedeutung beigemessen. Die Wichtigkeit der Kinder füreinander wird dabei häufig vernachlässigt. – Welche Kompetenzen Kleinkinder in Peer-Interaktionen zeigen und entwickeln und welche Rolle die Sprache in der Gestaltung von Interaktionen spielt, ist Teil einer Untersuchung, die Catharina Becker hier vorstellt.
In der frühkindlichen Bildung ist das Bild vom kompetenten Kind, das von Beginn des Lebens an aktiver Mitgestalter der eigenen Entwicklung ist, ein weit verbreitetes. Ein anderes Bild steht demgegenüber: Unterdreijährige seien wegen ihrer mangelnden sprachlichen Ausdrucksmöglichkeiten sozial wenig kompetent. Sie spielten nicht miteinander und wenn sie mit Gleichaltrigen in Interaktion träten, seien diese häufig wenig kooperativ und durch Streitigkeiten (meist um Spielsachen) und körperliche Aggressionen geprägt. Auch pädagogische Fachkräfte sind häufig skeptisch, ob Kleinkinder überhaupt davon profitieren können, gemeinsam mit Gleichaltrigen betreut zu werden1 oder ob sie nicht vielmehr auf den engen Kontakt zu ihren BezugserzieherInnen angewiesen sind. Wenn tatsächlich von wenig kooperativem oder gar aggressivem Verhalten ausgegangen würde, läge die Frage nahe, ob Kleinkinder überhaupt in Gruppen betreut werden sollten.
Doch wie sieht es wirklich um die Kompetenzen der Kleinkinder aus, wenn es um die Gestaltung von Interaktionen mit Gleichaltrigen geht? Inwieweit können Kleinkinder überhaupt ihr Gegenüber mit seinen Handlungsabsichten verstehen? Können sie bezogen darauf handeln? Und welche Rolle spielen sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten bei der Gestaltung von Interaktionen?
Die Kinder in der Szene aus dem Beispiel im Kasten auf der nächsten Seite gehen einem gemeinsamen Interesse nach: dem Spiel mit Wasser. Sie erkunden die Pumpe und das herausfließende Wasser und erfahren etwas über deren Eigenschaften. Nachdem zunächst mehr ein paralleles Spiel als eine Interaktion erkennbar ist, entsteht kurz darauf eine Kooperation: Leon schaufelt mit seiner Schaufel Wasser in Tildas Becher. Allein durch Gesten ist in dieser Szene eine freundliche Interaktion entstanden. Kommunikation ist also mehr als Sprache.
Kommunikation von Anfang an
Für den Säugling haben die Kommunikation mit anderen Menschen und der Aufbau von Beziehungen eine Überlebensfunktion. Er ist auf Menschen angewiesen, die ihn versorgen. Von Geburt an bringt er Fähigkeiten mit, diese Beziehungen aktiv mitzugestalten. Und auch schon vor der Geburt verfügt er über Wahrnehmungsfähigkeiten, die es ihm ermöglichen, wichtige Menschen zu erkennen: Durch die Bauchdecke nimmt er ihre Berührungen wahr und erkennt ihre Stimmen.2
Auch der neugeborene Säugling nimmt seine Umgebung differenziert wahr. Er achtet auf Geräusche und gibt der menschlichen Stimme, besonders der der Mutter, besondere Aufmerksamkeit. Auch kann er Laute, die in der Muttersprache nicht gebraucht werden, aussortieren. Die größte Aufmerksamkeit aber schenkt er dem menschlichen Gesicht, der Mimik. Dabei ist er von Beginn an in der Lage, den emotionalen Ausdruck im Gesicht seines Gegenübers zu interpretieren. Auch seine eigene Mimik ist einsatzbereit, er lächelt, lautiert und vokalisiert. Durch feinfühlige und differenzierte Antworten der Bezugspersonen auf seine Signale entstehen Interaktionen. Beide Partner nehmen ihre Signale wechselseitig wahr und reagieren entsprechend. Durch den differenzierten emotionalen Ausdruck im Gesicht seines Ge-genübers gewinnt der Säugling neue Möglichkeiten des Ausdrucks für sich selbst.3 Es entsteht ein »Austausch mimischer Gefühlsbotschaften«, der in den ersten Lebensmonaten ein wesentliches Mittel der Kommunikation zwischen Eltern und ihren Kindern ist.4
Kleinkinder – prosoziale Wesen
Das Kommunikationsverhalten von Säuglingen zeigt, dass sie von Anfang in der Lage sind, an Interaktionen teilzuhaben und Beziehungen zu knüpfen. Auch das prosoziale Verhalten, das bereits Kleinkinder zeigen, bestätigt dieses »Beziehungsbedürfnis«. Als prosoziales Verhalten werden einerseits freundliche Arten der Kontaktaufnahme verstanden und andererseits Verhaltensweisen, die auf den Nutzen für eine andere Person abzielen: das Teilen, Mitteilen, Mitfühlen und Helfen. Dies geschieht freiwillig und ohne Eigennutz. Der wahre Nutzen dieser altruistischen Verhaltensweisen liegt darin, dass Beziehungen gestärkt werden.5
Bei all diesen Formen des prosozialen Verhaltens spielen immer mehrere Prozesse eine Rolle: Die Kinder müssen zum einen die Gefühlslage ihres jeweiligen Gegenübers richtig deuten oder erkennen, was dessen Bedürfnisse, Handlungsabsichten oder -ziele sind. Zum anderen muss eine Motivation zum prosozialen Handeln vorhanden sein, denn meist ist damit auch ein Aufwand verbunden oder es entstehen, wie z.B. beim Teilen, »Kosten« für das Kind selbst. Das Wissen, dass andere Menschen andere Gefühle, aber auch Wünsche, Bedürfnisse und Einstellungen haben, liegt in der Theory of Mind begründet. Sie bezeichnet die Fähigkeit, eigene mentale Zustände wahrzunehmen und die der anderen Menschen auf Grund von Verhaltensbeobachtungen oder verbalen Äußerungen zu erschließen. Diese Fähigkeit entwickelt sich bei Kindern im Laufe der ersten Lebensjahre und differenziert sich innerhalb sozialer Interaktionen zunehmend aus. Mit etwa 18 Monaten sind Kinder schon in der Lage, die Gefühle anderer als getrennt von den eigenen zu betrachten und Handlungsabsichten und -ziele zu verstehen.6
Ein gutes Beispiel für prosoziales Verhalten ist die Zeigegeste, die Kinder gegen Ende des ersten Lebensjahres ausführen können. In der Zeigegeste wird die Motivation des Kindes sichtbar, zu kommunizieren und zu kooperieren. Durch das Zeigen auf einen Gegenstand oder eine Situation kann das Kind einen gemeinsamen Aufmerksamkeitsfokus herstellen. Dabei schafft es einen Rahmen, in dem Erlebnisse und Gefühle geteilt werden (Teilen und Mitteilen). Auch dies bildet und stärkt Beziehungen. Außerdem gibt es seinem Gegenüber Informationen oder Hilfestellung, die z.B. zur Lösung eines Problems beitragen (Helfen). Und es nutzt das Zeigen zum Erfragen von Informationen. Die Zeigegeste, die im Übergang vom Säuglings- zum Kleinkindalter auftritt, macht also deutlich: Kooperative Kommunikation ist auch ohne Sprache möglich und geht der verbalen Kommunikation voraus.7
Eine weitere Form des prosozialen Verhaltens, das vor allem von Kleinkindern gezeigt wird, ist das Socializing, das man als »Geselligsein« übersetzen kann. Es beinhaltet eine freundliche Kontaktaufnahme, das Interesse am anderen, das Ausdrücken von Zuneigung und positiven Affekten und das Zeigen oder Austauschen von Objekten. Auch Interaktionen des Socializing spiegeln das kooperative Verhalten von Kleinkindern wider und ihr Bedürfnis, Verbundenheit und Beziehungen zu schaffen.8
www.kindergartenpaedagogik.de/1813.html
Interessierte LeserInnen möchten wir auch auf den Artikel »Gleichaltrige im Krippenalter entwickeln Humor, eigene Themen und Freundschaften untereinander: Nützt das ihrer Entwicklung?« von Wiebke Wüstenberg hinweisen.
1 Vgl. Viernickel S. (2011): Spiele und Kontakte unter Kleinstkindern. In: Neuß N. (Hrsg.): Grundwissen Krippenpädagogik. Ein Lehr- und Arbeitsbuch. Berlin, S. 151-161
2 Vgl. Elsner B., Pauen S. (2012): Vorgeburtliche Entwicklung und früheste Kindheit (0-2 Jahre). In: Schneider W., Lindenberger U. (Hrsg.): Entwicklungspsychologie. Weinheim, S. 159-185
3 Vgl. Ahnert L. (2010): Wieviel Mutter braucht ein Kind? Bindung – Bildung – Betreuung: öffentlich und privat. Heidelberg
4 Vgl. Von Salisch M. (2010): Kleine Menschen mit großen Gefühlen – Entwicklung der emotionalen Kommunikation in der frühen Kindheit. In: Hamnes-Di Bernardo E., Speck-Hamdan A. (Hrsg.): Kinder brauchen Kinder. Gleichaltrige – Gruppe – Gemeinschaft. verlag das netz, S. 36-44
5 Vgl. Warneken F. (2013): Die Grundlagen prosozialen Verhaltens in der frühen Kindheit. In: Leu H. R., von Behr A. (Hrsg.): Forschung und Praxis der Frühpädagogik. Profiwissen für die Arbeit mit Kindern von 0-3 Jahren. München, S. 74-92
6 Vgl. Elsner B., Pauen S. (2012)
7 Vgl. Tomasello M., Carpenter M., Liszkowski U. (2007): A New Look at Infant Pointing. Child Development 78(3), S. 705-722
8 Vgl. Viernickel S. (2004): Kleinkinder konstruieren soziale Bedeutungen. In: Fried L., Büttner G. (Hrsg.): Weltwissen von Kindern. Zum Forschungsstand über die Aneignung sozialen Wissens bei Krippen- und Kinder
Den vollständigen Beitrag und weitere Artikel zum Thema können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/17 lesen.