Wie Beschwerdeverfahren im Kitaalltag funktionieren
Mit Inkrafttreten des neuen Kinderschutzgesetzes müssen Kitas den Kindern verbindliche Möglichkeiten der Beschwerde eröffnen und diese in ihrer Konzeption verlässlich verankern. Kathrin Aghamiri und Anke Petersen berichten, wie Beschwerdeverfahren im Kitaalltag praktisch umgesetzt werden können. Die Beispiele dafür stammen aus der AWO Kita Kurt-Pohle in Husum, die Kinderrechte im Alltag der Einrichtung konzeptionell verankert hat.
Ein Meckerbriefkasten im Flur, ein Onlineforum oder eine Ombudsstelle im Jugendamt sind für die Beschwerden null- bis sechsjähriger Kinder wenig geeignet. Dazu kommen Bedenken von Eltern und Fachkräften, ob Beschwerdeverfahren nicht erst zu einer Inflation geäußerter Unzufriedenheit auf Seiten der Kinder führen. Fangen die Kinder dann nicht an, über alles zu meckern, was ihnen einmal nicht gefällt? Produzieren Beschwerdemöglichkeiten möglicherweise sogar eine Konsumhaltung, getreu dem Motto: »Gebt uns, was wir hier fordern!«?
Beschwerden als Zeichen pädagogischer Qualität
In unserer Erfahrung, die sich sowohl auf die AWO Kita Kurt-Pohle als auch auf jahrelange Begleitung von Kitas und Jugendhilfeeinrichtungen sowie Forschungen in diesem Bereich stützt, ist das Gegenteil der oben genannten Befürchtungen der Fall. Der § 45 SGB VIII verpflichtet alle Einrichtungen, wo »Kinder oder Jugendliche ganztägig oder für einen Teil des Tages betreut werden«, Konzepte zu entwickeln, in denen »geeignete Verfahren der Beteiligung sowie die Möglichkeit der Beschwerde in persönlichen Angelegenheiten« Anwendung finden. Das heißt, Beschwerdeverfahren werden in der Kita nicht zusammenhanglos eingeführt, sondern sie sind unmittelbar verknüpft mit einer Partizipation der Kinder, die im Alltag der Einrichtung etabliert wird.
Ein Beschwerdeverfahren in der Kita ist ohne verbindliche Partizipation nicht zu haben! Kinder, die sich beschweren, sind Beteiligte, die sich für eigene und gemeinschaftliche Belange in der Kita engagieren, weil sie sich als anerkannte Träger von Rechten erfahren. »Partizipation heißt, Entscheidungen, die das eigene Leben und das Leben der Gemeinschaft betreffen, zu teilen und gemeinsam Lösungen für Probleme zu finden«1. Beschwerden können diesen zentralen Aspekt von Partizipation, das gemeinsame Suchen nach passablen Ergebnissen in Bezug auf gemeinschaftliche oder persönliche Themen, initiieren bzw. ins Rollen bringen. Beschwerden sind in diesem Sinne ein in den Alltag der Kita integriertes, lebendiges Instrument der Beteiligung von Kindern und eine Möglichkeit, Demokratiebildung zu eröffnen.
Rüdiger Hansen und Raingard Knauer schlagen in einem aktuellen Artikel2 zum Thema acht Leitfragen vor, die Kitas dazu nutzen können, an Partizipation geknüpfte Beschwerdeverfahren zu entwickeln. Sie formulieren in diesem Zusam-menhang auch Qualitätsstandards3, die deutlich machen, welch anspruchsvolle Herausforderungen für die Fachkräfte damit verknüpft sind: Erst durch Beschwerden nämlich wird die Ordnung der Kita als »kleine Gesellschaft«4 grundsätzlich verhandelbar. Zum anderen verweisen ihre Ausführungen darauf, wie der Umgang mit Beschwerden die pädagogische Qualität in der Kita befördert. Denn dort, wo sich ein Kind zutraut, den Erwachsenen zu widersprechen und wo dieser Widerspruch aufgenommen und verhandelt werden kann, entsteht auch ein sicherer Ort für Kinder im Sinne der §§ 1 und 8 SGB VIII5.
Aber wie geht das? Wie stellen sich Fachkräfte dieser Herausforderung in der Praxis? Wir werden im Folgenden einige Fragen6, die sich an die Entwicklung von Beschwerdeverfahren stellen, herausgreifen und mit Beispielen aus einer norddeutschen Kita, in der eine der Autorinnen als Kitaleitung tätig ist, beantworten. Auf diese Weise wollen wir einen praxisnahen Einblick in Möglichkeiten vielfältiger Abläufe, Instrumente und Arbeitsmethoden eröffnen und konkrete Anregungen für den Kitaalltag geben.
Recht und Unrecht unterscheiden
In der AWO Kita Kurt-Pohle wurden zunächst die Rechte der Kinder in einer sogenannten »Verfassunggebenden Versammlung«7 durch das gesamte Team geklärt. Dafür setzt sich das Team zusammen und entscheidet zunächst, welche Mit- und Selbstbestimmungsrechte den Kindern verbindlich zugestanden werden. Außerdem wurden verlässliche Orte (»Gremien«), wie die Gruppenversammlung und der Kinderrat, geschaffen, an denen die Kinder bei der Wahrnehmung der zuvor geklärten Rechte unterstützt werden. So entscheiden die Kinder beispielsweise selbst darüber, was und wieviel sie essen und wie sie sich draußen kleiden; sie bewerten den Speiseplan und stimmen Vorschläge ab; sie wirken mit bei der Entwicklung von Regeln des Zusammenlebens; sie werden beteiligt an der Raumgestaltung und an der Planung der Angebote; die Kinder haben darüber hinaus ein Anhörungsrecht, wenn es um die Neueinstellung von MitarbeiterInnen geht8.
Die Klärung der Partizipationsrechte der Kinder durch das ganze Team führt dazu, dass die Kinder sich als TrägerInnen eigener Selbst- und Mitbestimmungsrechte erleben. Sie stellen im jeweils konkreten Alltag fest, dass (Kinder-)Rechte unabhängig von persönlicher Beziehung oder Wohlverhalten bestehen. Dies führt dazu, dass sie beginnen, Recht systematischer von Unrecht zu unterscheiden und die Unverletzlichkeit ihrer Rechte in Beschwerden auch einfordern können. Um sich dem aber wirklich bewusst zu werden, braucht es nicht nur dialogisch agierende ErzieherInnen, sondern auch Orte, an denen die Rechte wahrgenommen werden können, und Menschen, die für diese Orte Sorge tragen.
Kontakt
Anke Petersen ist Kitaleiterin der AWO KiTa Kurt-Pohle. Als ausgebildete Kinderpflegerin, Erzieherin, Fachwirtin KiTa und Fachkraft für Bildung und Lernen arbeitet sie als Multiplikatorin und Moderatorin für Partizipation in Kindertageseinrichtungen und bietet Teamfortbildungen und Beratung an.
Kathrin Aghamiri, Dr. phil, ist Sozialpädagogin und Sozialarbeiterin, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Kiel und Bildungsreferentin des Instituts für Partizipation und Bildung. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind Partizipation von Kindern und Jugendlichen in pädagogischen Institutionen sowie Bildung und Aneignung.
1 Schröder, R. (1995): Kinder reden mit! Beltz, S. 14
2 Hansen, R., Knauer, R. (2016): Beschwerdeverfahren für Kinder in Kindertageseinrichtungen. In: Knauer, R., Sturzenhecker, B. (Hrsg.): Demokratische Partizipation von Kindern. Beltz Juventa, S. 47–73
3 Ebenda, Seite 69 f.
4 Vgl. Dewey, J. (1900/1925): The School and Society. University of Chicago Press
5 Der § 1 SGB VIII verpflichtet die Jugendhilfe darauf, dazu beizutragen, eine kinder- und familienfreundliche Umwelt zu schaffen, in der jedes Kind sein Recht auf Bildung und Erziehung verwirklichen kann. Der § 8 SGB VIII bestimmt dazu das Recht auf Beteiligung des Kindes in allen eigenen Angelegenheiten
6 Hansen/Knauer (2016) S. 49 ff.
7 Ebenda S. 47–73
8 Vgl. AWO Kita Kurt-Pohle (2015a): http://awo-sh.de/images/stories/kinder/kitas/Kita_Kurt_Pohle/Newsletter_Februar_2015.pdf, Stand: 20.04.2016
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 05/16 lesen.