Die Seele institutioneller Erziehung, Bildung und Betreuung gestern und heute
Wie wurden Kindertageseinrichtungen in Deutschland zu dem, was sie heute sind? Xenia Roth blickt zurück zu den Anfängen. Zu Kinderbewahrungsanstalten und Nothilfeeinrichtungen. Die Antworten, die sie in der deutschen Geschichte findet, helfen, die Gegenwart zu verstehen und eine Perspektive für die Zukunft zu entwickeln.
Von seinen Ursprüngen her ist die Kindertageseinrichtung eine »Nothilfe«-Einrichtung. Sie unterstützt »Bedürftige« und ist »not«-wendige »Hilfe« für diejenigen, die ihrer bedürfen. Man könnte nun meinen: »Alles Geschichte! Lange her.« Weit gefehlt. Wie ein Bandwurm, ein Mantra, ein (nicht nur) ungeschriebenes Gesetz zieht sich diese Orientierung und Grundhaltung durch die Geschichte bis in die Gegenwart. Ein Angebot nicht für alle. Sondern »Not-wendend« für Kinder aus Familien, deren eigener Alltag bereits eine existentielle Herausforderung gewesen ist, weitab jeder Emanzipation und Hoffnung auf Teilhabe an Bildung oder sozialem Aufstieg. Doch was einmal gut gemeint war und in seinen Ursprüngen ein Not-wendendes Angebot und einen wirklichen Fortschritt dargestellt hat, wird später zum Hemmschuh einer Entwicklung. Denn was braucht eine »Nothilfe«-Einrichtung an Qualität, wenn alles besser als gar nichts ist? Ob Bildungsinhalte, Qualifikation des Personals, fachliche Anforderungen?
Dieser Beitrag geht auf Spurensuche. Spuren, die sich verfolgen lassen bis in unsere Gegenwart. Mit einem beobachtenden Blick wird die Historie der Kindertagesbetreuung betrachtet. Und vielleicht fordert angesichts dieser historischen Spuren die Dynamik der vergangenen zehn Jahre dann doch mehr als die Antwort auf Qualitätsstandards, sei es ein angemessener Personalschlüssel oder die Qualifizierung des Personals und die Professionalität der Träger.
Es geht möglicherweise um eine grundsätzliche Richtungsentscheidung für die öffentlich verantwortete Kindertagesbetreuung: Wollen wir als Gesellschaft frühe Bildung für alle Kinder ermöglichen und sicherstellen? Wollen wir Kindertagesbetreuung weder als »Nothilfe« für Eltern verstehen noch als exklusives Bildungsangebot für diejenigen, die es sich finanziell leisten können? Wollen wir die Perspektive der Kinder und ihrer Eltern gleichermaßen ernst nehmen? Der Blick in die Geschichte gibt Anregungen für einen solchen Diskurs. Dieser Beitrag ist eine Einladung diesem Blick zu folgen und sich kritisch mit den Beobachtungen auseinanderzusetzen.
Der Beginn
Schon zu Beginn eines nebenfamilialen Betreuungssystems Anfang des 19. Jahrhunderts steht die Erwerbstätigkeit von Müttern. Dabei ging es nicht um die Emanzipation der Frau, sondern um existentielle Not. Für den in bitterer Armut lebenden Großteil der Bevölkerung ist es eine zwingende Notwendigkeit, dass alle Familienmitglieder zum Lebensunterhalt beitragen. Kleinstkinder und Kleinkinder sind sich selbst und der Verwahrlosung überlassen. So entstehen auf Initiative von engagierten Privatpersonen, meist Frauen, oder aus christlicher Motivation der Kirchen erste Kleinkindschulen und Kleinkindbewahranstalten. Dabei geht es um körperliche Pflege und Betreuung der Kinder.
Familie oder außerfamiliale Betreuung?
Zwei Drittel der Bevölkerung ist während der gesamten ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts arm oder ständig von existentieller Armut bedroht. Gleichzeitig bildet sich in dieser Zeit eine spezifische Familiennorm heraus: das Bürgertum. Auch wenn das Bürgertum als soziale Schicht kaum zehn Prozent der gesamten Bevölkerung ausmacht, prägt es von nun an das gesellschaftliche Denken. Die etablierte Familiennorm des Bürgertums schreibt eine enge Mutter-Kind-Beziehung vor. Damit gelten öffentliche Kleinkinderziehung und Erwerbstätigkeit von Müttern in den Augen der bürgerlichen Gesellschaft als etwas sehr Unnatürliches und Künstliches. Das bleibt nicht ohne Konsequenzen für die Angebote der Kindertagesbetreuung. Über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg gilt die Mehrheitsmeinung: Einrichtungen der öffentlichen Kleinkinderziehung sollen nebenfamiliale Nothilfeeinrichtungen sein und bleiben. Das Verhältnis von privater, in der Familie geleisteter Erziehung einerseits und einer öffentlich veranstalteten Kleinkinderziehung andererseits steht damit seit Anbeginn in einem Spannungsverhältnis.
Diese Haltung bleibt im Westen Deutschlands über das 20. Jahrhundert hinweg erhalten. Denn bis es hier zu einem Rechtsanspruch kommt, vergeht die Weimarer Republik, die Zeit des Nationalsozialismus, wird die Bundesrepublik gegründet und die DDR Geschichte. Und als der erste bundesweite Rechtsanspruch kommt, gründet dieser erneut in der Sorge um Bedürftige: Frauen, die von einem Schwangerschaftskonflikt betroffen sind. Die Diskussionen zum § 218 StGB haben das Ziel »Schwangere … bei der Suche nach einer Betreuungsmöglichkeit für das Kind … zu unterstützen.«
Ab 1996 sollen daher alle Kinder vom vollendeten dritten Lebensjahr an, einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz haben. Was für den Westen noch als Fortschritt gesehen wird, ist für die neuen Bundesländer, die ehemalige DDR, sogar ein Rückschritt, denn dort hatte es bereits ein flächendeckendes Angebot an Krippen, Kindergärten und Horten mit Öffnungszeiten von 6.00 bis 18.00 Uhr gegeben.
Die Motivation zur Einführung des ersten bundesweiten Rechtsanspruchs gründet in der Zielsetzung den »bedürftigen« Frauen zu helfen; man konnte sie schlecht dahingehend diskriminieren und einen Schwangerschaftskonflikt als Prüfkriterium zur Zulassung eines Platzangebotes offenlegen. Und so gilt der Anspruch für alle. Doch in der Bevölkerung Westdeutschlands hat sich längst das Etikett »Rabenmutter« etabliert, für alle, die »ohne Not« ein Betreuungsangebot nutzen.
Erst der im Jahr 2008 durch das Kinderförderungsgesetz (KiföG) verankerte und ab 2013 geltende Rechtsanspruch für Kinder ab dem vollendeten ersten Lebensjahr hat erstmalig alle Kinder und ihre Eltern im Blick. Dem liegen vornehmlich wirtschaftspolitische Motive zugrunde, denn längst sichert das Alleinernährer-Modell nicht mehr ein Auskommen der Durchschnittsfamilie insbesondere nicht die Altersversorgung von Müttern. Zudem werden Mütter als Fachkräfte benötigt. Doch auch die PISA-Debatte wirkt. Und so ist dieser Rechtsanspruch durchaus auch bildungspolitisch motiviert.
Xenia Roth ist Diplom-Psychologin, Diplom-Theologin (kath.), seit 1999 Referatsleiterin »Kindertagesbetreuung« und seit 2014 stellvertretende Abteilungsleiterin »Kinder und Jugend« des Landes Rheinland-Pfalz. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Ausbau und Qualität der Kindertagesbetreuung, Familienorientierung in der Kita, Fachkräftegewinnung und Qualität der Fachkräfte, Fragen der Governance.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/15 lesen.