Zwischen gesetzlichem Auftrag und der Praxis
Kitaalltag: Nach dem Mittagsschlaf werden die Kleinsten gewickelt. Auf dem Wickeltisch liegt ein Säugling. Beim Wickeln stellt die Erzieherin deutliche Rötungen im Windelbereich des Jungen fest. Sie ist beunruhigt, sie kennt die Familie und vor allem das Kind. Es ist immer etwas schmuddelig, oft nicht witterungsgemäss gekleidet, hat oft auch kein Frühstück dabei.
Über den Tag hin verstärkt sich das schlechte Gefühl der Erzieherin. Mit Kolleginnen spricht die Erzieherin über ihr Gefühl nicht, weil sie dafür eigentlich keine Zeit hat und nicht als Schwarzmalerin dastehen will. Beim Abholen spricht sie die Eltern auf den roten Po an, trifft bei ihnen auf offene Ohren, Verständnis und das Versprechen, sich zu kümmern. Sie ist beruhigt. Die Rötungen verschwinden im Laufe der Woche fast gänzlich.
Nach dem Wochenende ist der Po des Jungen aber erneut massiv gerötet und noch dazu blutig. Der Knoten im Bauch der Erzieherin schnürt sich immer mehr zu, sie macht sich große Sorgen um den Jungen, sie ist aufgeregt und spürt Angst. Sexueller Missbrauch ist das Erste, was ihr durch den Kopf schießt. Weil die Kita-Leitung nicht erreichbar ist, informiert sie, ohne noch einmal Kontakt mit den Eltern aufzunehmen, direkt das Jugendamt über eine akute Kindeswohlgefährdung. Das Jugendamt veranlasst umgehend eine ärztliche Inaugenscheinnahme und muss sich mit den aufgebrachten Eltern auseinandersetzen. Die ärztliche Diagnose lautet: Pilzerkrankung.
Ist das qualifizierte Kinderschutzarbeit in Kindertagesstätten? Nein.
Nicht erst mit der Einführung des Bundeskinderschutzgesetzes im Jahre 2012 und der damit verbundenen Präzisierung des Kinderschutzauftrages ist die Sicherung des Kindeswohls bzw. der Kinderschutz ein elementares Thema in der Kindertagesbetreuung. Formalrechtlich besteht ohne jede andere rechtliche Bindung mit Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes der der Bundesrepublik Deutschland ein sogenannter »Wächterauftrag« der staatlichen Gemeinschaft über das Wohl jedes Kindes. Die Mitarbeiterinnen in Kindertages-einrichtungen stehen im direkten Kontakt zu den Kindern, erleben sie täglich über viele Stunden, kennen die Eltern und haben Einblick in das soziale Umfeld der Familien.
Die Beantwortung der Fragen, wie es einem Kind geht, was es braucht, welche Förderung, Hilfe und Unterstützung es durch die Erzieherinnen in der Kita bekommen kann, gehört unabhängig von der Erfüllung gesetzlicher Aufträge zum Kitaalltag dazu. In Tür-und-Angel-Gesprächen beim Bringen oder beim Abholen werden zwischen Eltern und Erzieherinnen Informationen und Erlebnisse, Erfreuliches und Sorgen ausgetauscht. Auch in Entwicklungsgesprächen wird von den Fachkräften der Kita regelmäßig über die Entwicklung des Kindes berichtet und es werden, wenn nötig, konkrete Angebote zur Unterstützung für Kinder und Eltern gemacht.
Dennoch ist Kinderschutz für Erzieherinnen auch mit Überforderung, Unkenntnis und Unsicherheit verbunden, wie das Fallbeispiel zeigt. Werden Fragen des Kinderschutzes in Teams thematisiert, löst das oft Abwehr bei den Fachkräften aus: »Dafür haben wir keine Zeit und zu wenig Personal« oder »Kindeswohlgefährdung gibt es in unserer Einrichtung nicht«.
Das beschriebene Beispiel verdeutlicht, dass Kinderschutz ein emotionales Thema ist, welches unterschiedliche Gefühle bei Fachkräften und Eltern hervorrufen kann. Ohnmacht und Schock, Trauer und Wut, Mitgefühl und Anteilnahme sind nur einige. Auch wenn in akuten Fällen bzw. bei Gefahr im Verzug immer Eile geboten ist, ist ein reflektiertes Innehalten, ein Austausch mit den Kolleginnen nicht nur für die eigene Handlungssicherheit, sondern auch für die persönliche emotionale Entlastung wichtig. Wie lässt sich der Schutzauftrag bei Kindeswohlgefährdung im Kitaalltag umsetzen, damit er nicht als Überforderungen wahrgenommen, sondern als regulärer Bestandteil gelingender pädagogischer Arbeit verstanden und praktiziert wird?
Vom Bauchgefühl zur Sicherheit
Schmutzige Kleidung, ein blauer Fleck oder das fehlende Frühstücksbrot können erste Zeichen von Vernachlässigung oder Gewalt sein, wie sie auch die Erzieherin im Fallbeispiel über einen längeren Zeitraum wahrgenommen hatte. Die pädagogischen Fachkräfte in der Kita wissen doch, was Kinder brauchen: altersangemessene Ernährung, ausreichende Ruhe- und Schlafmöglichkeiten, angemessene Körperpflege, der Witterung entsprechende Kleidung, einen verlässlichen Gefahrenschutz, sichere Betreuung und Aufsicht, Gewährleistung einer gesundheitlichen Grundversorgung, Spielanregungen bzw. -möglichkeiten, eine sachgemäße Behandlung von Entwicklungsauffälligkeiten sowie unbedingt stabile Bezugspersonen, die sich dem Kind emotional zuwenden. Erzieherinnen sehen sehr gut im täglichen Kontakt mit den Kindern, ob diese Bedürfnisse erfüllt sind oder wenn sich etwas verändert.
Wo aber genau beginnt Kindeswohlgefährdung? Sind die schmuddelige Anmutung eines Kindes oder das Wissen, dass Mutter oder Vater es nur selten vermögen, ihr Kind witterungsgerecht anzuziehen schon »gewichtige Anhaltspunkte« für eine Kindeswohlgefährdung? Wie kommen Erzieherinnen von einem »komischen Bauchgefühl«, das geprägt ist von eigenen Normen, Wertvorstellungen und Haltungen, zu einer auf eindeutigen Beobachtungen und Sachinformationen beruhenden Gefährdungseinschätzung?
Formen der Kindeswohlgefährdung, wie Vernachlässigung und körperlicher Gewalt, aber auch sexuelle Gewalt und sexueller Missbrauch sowie psychische Gewalt und seelische Misshandlung sind vielseitig und bedürfen eines großen Maßes an Sensibilität, um sie zu erkennen und zu bewerten. Auch eine hohe fachübergreifende diagnostische Kompetenz und zum Teil auch spezifisches Fachwissen.
Einerseits müssen Erzieherinnen diese diagnostischen Kompetenzen durch Fortbildungen erhalten. Andererseits müssen sie aber auch die Möglichkeit bekommen, ihre Sorgen um ein Kind verbindlich im Team besprechen zu können. Ein Klima, welches Kinderschutz in der Kita von vornherein wegen Überforderung zurückweist oder tabuisiert, lähmt die Erzieherinnen, macht sie blind für dieses Thema oder zu »Einzelkämpferinnen«. Deshalb ist es wichtig, Kinderschutz als gesetzlichen Auftrag als ein wirkliches Querschnittsthema in der Arbeit der Kita zu verstehen. Ein erster Schritt kann die Benennung einer Ansprechpartnerin für Kinderschutz bzw. einer kitainternen Fachkraft für Kinderschutz sein, die als Multiplikatorin das Thema Kinderschutz für die Kolleginnen präsent hält, regelmäßig neuen Input gibt und ein offenes Ohr für die Kolleginnen in einem konkreten Einzelfall hat.
Die als Multiplikatorinnen fungierenden Erzieherinnen oder Leiterinnen treffen sich regelmäßig zu praxisbegleitenden Fortbildungen, die z.B. durch die Träger der Einrichtungen (Freie Träger, Stadtverwaltungen), die Kitafachberaterinnen der Jugendämter oder durch die Einrichtungen selbst organisiert werden. Sie befassen sich mit den Themen oder Fällen, die sie aus ihren Einrichtungen mitbringen: z.B. wie man Risiko- und Gefährdungssituationen erkennt und beurteilt, ein Kinderschutzverfahren durchführt, welche gesetzlichen Grundlagen des Datenschutzes dabei zu beachten sind und wie Gespräche in diesem Kontext zu führen sind.
Checkliste-Kindeswohlgefährdung
Die Checkliste-KWG kann von Fachkräften aus Kindertagesstätten über die Fachstelle Kinderschutz im Land Brandenburg und die Geschäftsstelle des Bündnis Kinderschutz MV c/o Start gGmbH kostenfrei angefordert werden.
Kontakt
Fachstelle Kinderschutz im Land Brandenburg
c/o Start gGmbH
Fontanestraße 71 · 16761 Hennigsdorf
Tel.: 03302/860 95 77
www.fachstelle-kinderschutz.de
www.kischu-stadt.de
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/15 lesen.