An die Erlebnisse unserer frühen Kindheit haben wir keine bewusste Erinnerung. Und doch stecken sie uns »in Fleisch und Blut«. Sie beeinflussen, wie wohl wir uns in unserer Haut fühlen, wie wir uns in Beziehungen verhalten und wie anfällig wir für psychische Probleme sind. Für unsere seelische Entwicklung sind die ersten Lebensjahre die wichtigste Zeit. Ein Beitrag von lnes Possemeyer.
Erinnern Sie sich, wie erschrocken Ihre Eltern waren, als Sie damals von der Schaukel fielen? Erinnern Sie sich an das Liedchen, das Ihre Mutter Ihnen beim Wickeln immer vorsang, und daran, dass Ihr Vater Spielzeug wegzaubern konnte? Nein? Ich auch nicht. Wie bei den meisten Menschen reichen meine Erinnerungen bis ins vierte Lebensjahr zurück. Die Zeit davor kenne ich nur aus Schilderungen. Und doch hat sie tiefe Spuren in meinem Gedächtnis hinterlassen.
Das Wort »Gedächtnis« kommt von Denken. Kein Wunder also, dass wir damit vor allem unser bewusstes Erinnern assoziieren. Den ersten Schultag, die mühsam einstudierte Formel, Gesichter, Telefonnummern. Dieses Wissen ist in der Großhirnrinde gespeichert, im »expliziten« Gedächtnis. Seine Inhalte können wir uns ins Bewusstsein rufen und in Worte fassen. Mit seiner Hilfe blicken wir zurück, ziehen Schlüsse, schauen voraus.
Derart in Gedanken, vergessen wir mitunter unseren Leib. Das mag eine Spätfolge der westlichen Vorstellung sein, dass Geist und Körper weitgehend voneinander getrennt seien. »Ich denke, also bin ich«, postulierte im 17. Jahrhundert der Philosoph Rene Descartes und prägte damit unser Menschenbild bis in die jüngste Zeit.
Vergegenwärtigen wir uns also ein paar Dinge, die wir tun, ohne nachzudenken: eine Schleife binden, Fahrradfahren, Gegenstände erkennen, im Dunkeln den Lichtschalter finden. Auch das Gespür des Torjägers für den richtigen Augenblick, unsere Vertrautheit mit Orten, gute und schlechte Angewohnheiten basieren auf Gedächtnis. Wir haben also nicht nur Erinnerungen, sondern wir sind Erinnerung.
Diesen Teil nennen Wissenschaftler implizites oder auch »nicht deklaratives« Gedächtnis – weil sich das Gespeicherte schwerlich in Worte fassen lässt. Es ist eben verkörpert. In der deutschen Sprache hat der Philosoph und Psychiater Thomas Fuchs dafür eine schöne Bezeichnung gewählt: Leibgedächtnis.
Es umfasst all unsere vergangenen, sensorischen, motorischen und emotionalen Erfahrungen, die im Hier und Jetzt wirken: ein Know-how, das zwar auch weitgehend in unserem zentralen Nervensystem verankert ist, uns aber doch gefühlt in Fleisch und Blut steckt.
Manches davon haben wir zunächst mühsam erlernt, be-vor sich das Bewusstsein daraus zurückgezogen hat. So habe ich längst vergessen, wo auf meiner Computertastatur welcher Buchstabe liegt – meine Finger finden ihn automatisch. Nun habe ich den Kopf frei für anderes. Und wo es auf sensomotorische Spitzenleistungen ankommt, etwa bei Musikern oder Sportlern, mischen sich die Gedanken ohnehin besser nicht ein. Unser Bewusstsein ist nämlich vergleichsweise langsam.
An anderem Know-how ist es nie beteiligt gewesen. So wissen wir intuitiv, dass es guttut, jemanden in den Arm zu nehmen. Erkennen am Klang einer Stimme, ob ein Mensch fröhlich ist oder niedergeschlagen.
Unser Bewusstsein merkt meist erst auf, wenn »etwas nicht stimmt« – und unsere Gewohnheiten unterbricht. Ich mich vertippe. Der Körper schmerzt. Das Bauchgefühl vor einer dunklen Gasse warnt. Oder aber, wenn wir uns selbst nicht verstehen: Vielleicht, weil wir etwas »Irrationales« tun, weil wir uns unsere eigenen Gefühle nicht erklären können.
Oder weil traumatische Erlebnisse noch in den Knochen stecken und wieder hochkommen – und das Bewusstsein überwältigen. Dann reicht ein Reifenquietschen, um den gesamten Körper in einen Unfall zurückzuversetzen. Das Vergangene ist nicht vergangen.
Auch die Neurowissenschaft hat sich lange auf das Bewusstsein konzentriert. Doch seit einigen Jahren wird die immense Bedeutung des körperlichen Erlebens für unser Fühlen und Denken entdeckt. Und damit auch die Tragweite der impliziten Erinnerungen aus unseren ersten Lebens-jahren. Denn wir haben damals nicht nur anhand von fallenden Schnullern die Schwerkraft erkannt und zu laufen gelernt, sondern auch, wie Menschen miteinander umgehen. Ohne Worte, ohne reflektierenden Verstand: Durch Begreifen, Einsehen, Empfinden...
Für unsere seelische Entwicklung ist dies der wichtigste Lebensabschnitt. Von ihm hängt vielfach ab, wie wohl wir uns als Erwachsene in unserer Haut fühlen, wie leicht wir unter die Decke gehen oder uns ängstigen, ob wir eher mit eingezogenen Schultern oder aufrecht durchs Leben gehen. Wie wir uns in Beziehungen verhalten und wie anfällig für psychische Krankheiten wir sind.
Mit diesen leiblichen Erinnerungen verhält es sich nicht anders als mit einer fremden Sprache: Wer sie verstehen will, fängt am besten vorn an. Versetzt sich also zurück in jene Zeit, als alles noch körperlich war.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/14 lesen.