In den vergangenen Jahren blieben meine Blicke in Kitas und Schulen immer wieder an Alphabeten hängen: Poster, Spiele, Bodenlackierungen, Girlanden, Magnete, Stempel… Vielleicht verdankte sich meine Aufmerksamkeit auch dem Umstand, dass sich meine mittlerweile fünfjährige Enkelin mehr und mehr für Buchstaben und Zahlen interessiert und sich dem Phänomen der Zeichen auf vielerlei eigenwilligen Wegen nähert.
Ich fragte mich, was ihr von all dem, das ich in den Einrichtungen gesehen hatte, gefallen würde, ihr Spaß machen und sie auf ihrer Lernreise herausfordern oder unterstützen würde. Einige der didaktischen Materialien fand ich anregend, andere kitschig, unlogisch oder zu wenig kreativ, um zum experimentellen Umgang einladen zu können. Die Sandpapierbuchstaben von Maria Montessori gefielen mir hingegen – aufs Neue – ebenso gut wie die zahllosen Varianten der Kinderdruckerei nach Freinet, die großen, mehrfarbigen Schwungbilder aus der Praxis der Waldorfpädagogik und vieles mehr.
Vielfältige Forscherfrüchte
Mittlerweile füllt das Material, das aus meinen Beobachtungen, Gedanken, Ideen und Experimenten zum Thema »Schrift« hervorgegangen ist, einen Wäschekorb. Ein eigenes Fortbildungsmodul, die Wortwerkstatt, ist längst entstanden. Die kreativen Lernwege meiner Enkelin, ihrer Freunde und der Kinder einer von mir betreuten Berliner Kita zeigten mir, dass es vielfältige Zugänge zur Welt der Zeichen gibt. Und geben muss.
Ich beobachte: Es gibt ihn nicht, den einen, idealen Weg, sprachentwicklungsentsprechend schreiben und lesen zu lernen oder diese beiden Kulturtechniken didaktisch »anzubahnen«. Wenn dem so wäre, hätten die Didakten das kostbarste Potenzial der Kinder, ihre Individualität und Kreativität, außer Acht gelassen. Kinder interessieren sich auf sehr verschiedene Weise und zu unterschiedlichen Zeiten für die Vielfalt der Formen, Zeichen, Laute und Bedeutungen, freuen sich über lustige Querverbindungen und Kombinationsmöglichkeiten dieser Kategorien. Sie entdecken, raten, schlussfolgern, experimentieren, finden und verstehen dabei mehr und mehr die Ordnungen, die den Umgang mit diesen Dingen in unserem Kulturkreis bestimmen.
Weil die Wonnen der Vielfalt und die vielfältigen Zugänge in einer Schreib- oder Wortwerkstatt stets begünstigt werden sollten, entstanden in den letzten Jahren ein Tast-Alphabet aus 26 unterschiedlichen Materialien, Rubbelzeichen, ein Alphafrisbee, Spiegelrätsel, Paus-Schrift, Sichel-Schrift, Knet-Schrift… Zudem gibt es nun bald ein Poster, das nicht nur visuelle Verknüpfungen à la »A wie Affe« ermöglicht, sondern leselernhungrige Kinder von Kopf bis Fuß in Bewegung bringt.
Über das Visuelle hinaus
Die gängigen Poster und Anlaut-Tabellen – das fiel mir bei meinen Recherchen in Kitas und Schulen rasch auf – funktionieren rein kognitiv und visuell: Das Kind erkennt einen Pinguin, benennt ihn, hört und sieht den Anlaut P. Zwar ist dadurch eine Brücke hergestellt, aber der Vorgang des Entzifferns und Lesens findet nur im Kopf statt.
Ich frage mich, ob der Neugier von Elementar- und Grundschulkindern auf Schrift nicht weitere didaktische Antworten zustehen. Nämlich solche, die den ganzen Körper, seine Ausdrucks-, Wahrnehmungs- und Kommunikationsmöglichkeiten einbeziehen. Sehe ich mich um, stelle ich fest, dass die Reduzierung des Lernens auf Visuelles und Feinmotorisches in unserem Bildungssystem sehr früh eintritt und in der Regel nicht wieder zurückgenommen wird.
Vom Laut zum Zeichen
Als Nutzer der lateinischen Schrift haben wir das Glück, es mit einer Lautschrift zu tun zu haben. Laut für Laut setzen wir Zeichen und daraus Wörter zusammen. Das ist einerseits etwas Körperliches, andererseits ist es analytisch. Alles wird in seine Bestandteile zerlegt, Vokale und Konsonanten.
Im Chinesischen ist das anders. Die chinesischen Zeichen sind eine Begriffsschrift. Das heißt, jedes Zeichen steht für ein Ding oder einen Begriff. Wir haben das auch, aber den wenigsten ist es bewusst: Unsere arabischen Ziffern stehen ebenfalls nicht für Laute. Parallel zur lateinischen Lautschrift erlernen die Kinder also eine Begriffsschrift: Die Ziffer 5 steht für eine (An) Zahl. Das muss man erst mal unterscheiden, verstehen und auseinanderhalten können.1
Doch zurück zur Lautschrift und zu meiner Lust, den handelsüblichen Anlautpostern ein weiteres didaktisches Material an die Seite zu stellen. Ein Material, das Kinder einlädt, die körperliche Ausdrucksebene beizubehalten, sie in ihre schriftsprachliche Bildung zu integrieren und folglich in Bewegung zu bleiben.
Dorothee Jacobs lebt als freiberufliche Fortbilderin, Kreativpädagogin, Autorin, Referentin und Mutter zweier Töchter in Berlin. Im verlag das netz erschienen von ihr die Bücher »Projektarbeit – Kitaleben mit Kindern gestalten« und »Die Konzeptionswerkstatt in der Kita«. Bei Cornelsen/Skriptor erschien »Kreative Dokumentation«.
Kontakt: www.dorotheejacobs.de
1 Vgl. Dehn, M.: Kinder & Lesen und Schreiben. Klett Kallmeyer Verlag, Seelze 2007, S. 61
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 01-02/13 lesen.