Was Sie schon immer über Offene Arbeit wissen wollten - Teil 8
In Heft 8-9/10 startete eine Serie mit Fragen und Antworten zur Offenen Arbeit – eingesammelt in Kindertageseinrichtungen, bei diversen Veranstaltungen und beantwortet von Gerlinde Lill. Diesmal geht es um Integration.
Der letzte Beitrag befasste sich mit der Frage, ob Offene Arbeit für die jüngsten Kindern geeignet ist. Das Pendant da-zu ist die Frage, die heute im Zentrum steht:
Kann Offene Arbeit mit Integrationskindern funktionieren?
Hintergrund dieser Frage ist die Sorge, dass Kinder mit schwierigen Ausgangsbedingungen, speziell behinderte Kinder, in offenen Arbeitsweisen nicht das finden, was sie vermeintlich besonders brauchen: ein hohes Maß an Orientierung, Ruhe und individueller Zuwendung.
Unterstellt wird dabei zum einen, dass Offene Arbeit das alles nicht bieten kann.1 Zum anderen werden erweiterte Handlungsspielräume und Entscheidungsfreiheit nur Kindern zugetraut, die ihre Interessen selbst- bewusst verfolgen und aushandeln können, was von behinderten Kindern nicht angenommen wird.
Die Angst ist zweifach: Behinderte Kinder werden überfordert. Und: Behinderte Kinder werden nicht genug gefördert, weil sie im Gewusel untergehen.
Erinnern wir uns: Es geht bei Offener Arbeit gerade darum, Kinder, die nicht ins »normale« Raster passen, in die Regelkita (und ebenso die Regelschule) aufzunehmen, statt sie in Sondereinrichtungen abzuschieben.
Offene Arbeit bedeutet: offen für alle Kinder. Niemand wird ausgegrenzt, alle gehören dazu. Das korrekte, wenn auch etwas sperrige Wort dafür ist Nichtaussonderung. Dieser Anspruch ist ein Basisbaustein der Offenen Arbeit.
Daraus folgen weitere tragende Säulen des Konzeptes: Individualisierung, Differenzierung und Flexibilisierung. Denn je unterschiedlicher die Kinder sind, umso offensichtlicher wird: Alle über einen Kamm scheren ist unsinnig.
Offene Arbeit orientiert sich an den Kindern, die da sind, an dem, was sie zeigen und einfordern. Ihren vielfältigen Bedürfnissen gerecht zu werden verlangt nicht nur, diese Bedürfnisse wahrzunehmen, sondern die Bedingungen dafür zu schaffen, dass sie in ihrer ganzen Bandbreite und Unterschiedlichkeit tatsächlich zum Zuge kommen. Das funktioniert nur mit flexibler Planung und Organisation, was nicht ohne ein hohes Maß an gemeinsamer Verantwortung, Reflexion und Kooperation zu leisten ist.2
Manche Kinder – ob behindert oder nicht – suchen die Nähe und Zuwendung Erwachsener oft. Andere weniger. Und wieder andere sind besonders im Auge zu behalten, aus welchen Gründen auch immer. Ausnahmslos alle Kinder wollen in dem unterstützt werden, was sie tun und probieren, wollen ermutigt werden, wenn sie sich trauen, ihre Grenzen zu überwinden, wollen gesehen werden, wenn etwas gelingt. All das zu erfüllen ist Anspruch und Qualitätsmerkmal der Offenen Arbeit.
Insofern hat Offene Arbeit viele Facetten: Das Haus für alle Kinder im Umkreis öffnen, Berührungsängste und Bilder vom »Normkind« überwinden, Vereinzelung aufheben und sich für Kooperation öffnen, vor allem aber: sich auf Offene Prozesse einlassen – nicht nur im Vertrauen auf die Entwicklung der Kinder, sondern genauso im Vertrauen auf die eigene Entwicklung, auf persönliche, konzeptionelle und Teamprozesse.
Nicht offen ist der innere Kompass der Offenen Arbeit: die konsequente Ausrichtung an den Interessen der Kinder – und zwar aller Kinder in ihren jeweiligen Besonderheiten. Deshalb möchte ich die Ausgangsfrage gern umdrehen: Wie kann man in »der Integration« anders als offen arbeiten?
Integration als Sonderförderung
Die Realität in der Bundesrepublik zeigt, dass diese Sicht auf die Dinge wenig verbreitet ist. Politische und bürokra-tische Vorgaben verengen den Blick eher, als ihn zu öffnen.
Kinder, die in irgendeiner Weise »aus dem Rahmen fallen«, erhalten den Integrationsstatus. Sofern die Eltern sich überwinden können, einen entsprechenden Antrag zu stellen – was ihnen verständlicherweise schwer fällt, wenn ihr Kind keine offensichtliche körperliche oder geistige Behinderung hat, sondern den eher diffusen Kategorien von »Lernbehinderung« oder »Verhaltensauffälligkeit« zugeordnet wird. Denn wer einmal den I-Stempel hat, wird ihn schwer wieder los. Doch weil daran Fördergelder und zusätzliches Personal gekoppelt sind, wird Eltern (gerade auch in Kitas) zugeraten.
Wer Integration auf seine Fahnen schreibt, winkt mit spezieller Förderung. Rund um das Markenzeichen Integration hat sich eine Palette von Maßnahmen etabliert: Speziell fortgebildete Integrationserzieherinnen und Therapeuten arbeiten in Integrationsräumen zu festen Integrationszeiten mit Integrationsmaterialien an Integrationskindern. Übersehen wird, dass Integration vor allem eine Anpassungsleistung derjenigen ist, die »normalerweise« ausgesondert werden. Sie wollen und sollen die Chance erhalten, sich in das Leben in der Kita einzugliedern und wie alle anderen dazuzugehören, mit den gleichen Rechten und Möglichkeiten.
Gerade in der Arbeit mit behinderten Kindern zeigt sich das, was insgesamt in pädagogischen Zusammenhängen mittlerweile dominiert: Das Augenmerk wird fast nur auf Förderung gerichtet.
Förderung geistert als unbestimmter Begriff herum, der zwar grundsätzlich »gut« besetzt ist, aber letztlich als kom-pensatorische Maßnahme verstanden wird. Als Förderung gilt alles, was dazu beiträgt, die Leistungsfähigkeit im Sinne offizieller Anforderungen zu erhöhen. Ausschlaggebend (und Maßstab der Einschätzung von Entwicklung) ist nicht das Wohlbefinden des Kindes, sondern seine Kompetenz. Genauer gesagt: die von Erwachsenen am Ideal gemessene Kompetenz. Und als Ideal gilt entweder, was durchschnittlich alle Kinder können, oder was ein Kind vermutlich als Höchstleistung bringen kann – bei gezielter Förderung.
Es liegt in der Natur der Sache, dass Kinder mit erschwerten Ausgangsbedingungen es schwerer haben, den Anforderungen zu entsprechen. Folglich ist einer der Ansprüche von Integrationseinrichtungen, einen Ausgleich für die diagnostizierten Defizite zu schaffen und damit zur Chancenangleichung beizutragen.
So löblich die Absicht ist, für den Ausgleich ungleicher Chancen zu sorgen – übersehen wird die Botschaft: Das Maß aller Dinge ist nicht, was für das einzelne Kind (den einzelnen Menschen) bedeutsam ist, nicht sein individueller Entwicklungsweg, nicht das, was auf diesem Weg gerade »dran« ist, sondern »Normalität«, Zukunftstauglichkeit und problemloses bis optimales Funktionieren.
1 Siehe auch: Fragen und Antworten zur Offenen Arbeit, Teil 2: Irrungen und Verwirrungen. Heft 10/10, S. 20-23
2 Siehe auch: Fragen und Antworten zur Offenen Arbeit, Teil 1: Sichtbare und unsichtbare Seite 15-16
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 06-7/11 lesen.