Der kürzeste Reformversuch der Bildungsgeschichte ist zu Ende, bevor er begann. Es wird Zeit für eine Reform der Ausbildung, die diesen Namen verdient, findet Michael Kobbeloer, räumt mit einigen populären Irrtümern auf und entwirft die Erzieherinnenausbildung 3.0.
Stellen Sie sich vor, ein neuer Träger übernimmt Ihren Kindergarten und behauptet in der Öffentlichkeit, er würde besser arbeiten als Sie, obwohl er das nicht belegen kann und keine Erfahrung in der Kindertagesbetreuung hat. Er nimmt in Ihrem Reggio-Kindergarten alle Spiegel und Bilder ab, räumt das Atelier aus und beschließt – ohne Sie, die Eltern und die Kinder zu fragen – ein neues Konzept, nach dem künftig gearbeitet werden soll. Keine Diskussion, keine Anerkennung für geleistete Arbeit, kein Lernen von oder aus Erfahrung und vor allem – kein Aufschrei in der Öffentlichkeit. Denken Sie, das geht nicht?
Falsch gedacht, denn genau das ist seit einiger Zeit gängige Praxis auf politischer und wissenschaftlicher Ebene: die Diskussion um die Qualität der pädagogischen Arbeit von Erzieherinnen und die Reform der Erzieherinnenausbildung durch den Bachelor Frühpädagogik zu »reformieren« oder zu ersetzen.
Debatte als Reform und Apfel als Birne
Hier beginnt der erste Irrtum, denn es kann sich, wenn überhaupt, nur um eine Reform der frühpädagogischen Ausbildung handeln. Zumindest in Westdeutschland gab es keine Ausbildung von Frühpädagogen im beabsichtigten Sinne, nimmt man die wenigen Möglichkeiten der Schwerpunktsetzung1 im Rahmen eines Diplom-Studiengangs Erziehungswissenschaften einmal aus. Deshalb ist ein Vergleich der »Ausbildungen« nicht möglich, da man nur vergleichen kann, was schon da ist oder da war.
Bereits aus dieser Perspektive handelt es sich nicht um eine Reform, sondern um eine Hochschul- und Studienreformdebatte, um die Neuschaffung einer »Ausbildung« auf Hochschulebene, ohne eine Ausbildungslösung für die anderen Arbeitsfelder von Erzieherinnen bedacht zu haben. Zum anderen ist die Erzieherinnenausbildung eine Breitbandausbildung und qualifiziert für nahezu alle sozialpädagogischen Arbeitsfelder der Altersgruppe von 0 bis 27 Jahren. Die frühpädagogischen Studiengänge qualifizieren dagegen für die Altersgruppe von 0 bis maximal 10 Jahren. Eine Breitbandausbildung mit einer Spezialausbildung zu vergleichen – das ist ebenso sinnlos wie der Vergleich von Äpfeln mit Birnen. Sind zwar beide Kernobst, aber das war es auch schon.
Nebenbei bemerkt: Der Begriff »Frühpädagogik« ist bislang wissenschaftlich nicht definiert. In der Diskussion umfasst er mal die null- bis dreijährigen, die null- bis sechsjährigen, die null- bis zehnjährigen oder gar die null- bis vierzehnjährigen Kinder.2 Kurz: Das föderale Chaos der Erzieherinnenausbildung setzt sich fort.
Die deutsche Radfahrermentalität: nach unten treten
Die Arbeit von Erzieherinnen in Deutschlands Tageseinrichtungen für Kinder ist schlecht, heißt es. Das ist der zweite Irrtum. Wo ist der Beweis? Wer maßt sich an, das schlechte Abschneiden in der PISA-Studie allein einer Berufsgruppe anzulasten?
Deutschland führt weltweit in vielen Bereichen, war bis vor kurzem Exportweltmeister. Nicht wenige Fach- und Führungskräfte wie Ärzte, Ingenieure, Wissenschaftler, Künstler oder Politiker waren als Kinder in der Kita. Verbrachten sie dort die wichtigsten Jahre und können Grundkompetenzen später nicht mehr erwerben – wie konnte Deutschland zu einer der bedeutendsten Kultur- und Industrienationen werden, wenn die Erzieherinnen so schlecht waren?
Viele Merkmale bestimmen die Qualität von Arbeit. Nur ein Strukturmerkmal herauszugreifen und zu vergleichen, das entbehrt jeder qualitativen Aussagekraft. Der Personalschlüssel, finanzielle, materielle und personelle Ressourcen, die Einstellung der Gesellschaft zu Kindern und Familien, Kindergärten und deren Betreuungspersonal müssen neben vielen anderen Faktoren bedacht und eruiert werden, um echte Aussagen treffen zu können.
Eine vergleichende Studie, die diese Faktoren einschließt, liegt bislang europaweit nicht vor. Im Gegenteil: Fachleute, die sich ehrlich und unvoreingenommen mit der Kindertagesbetreuung im europäischen Kontext beschäftigten, stellen fest, dass die Frühpädagogik andernorts keinesfalls immer besser wegkommt als in Deutschland – trotz akademisch ausgebildeten Personals. Fragt man Eltern, die ins europäische Ausland auswanderten, erfährt man nicht selten, dass der hohe Qualitätsunterschied, der hierzulande gern publizistisch beschworen wird, nicht feststellbar ist.
Dass es Verbesserungsbedarf im gesamten deutschen Bildungssystem gibt, ist unbestritten. Doch der Erzieherinnenberuf wird in der aktuellen Diskussion eher ab- als aufgewertet. Respekt für jahrelange Arbeit fehlt, Qualität wird zerredet, und es entsteht der Eindruck, dass nur die selbsternannten frühpädagogischen Expertinnen wissen, worauf es ankommt.
Die meisten Erzieherinnen arbeiten seit Jahren unter schlechten Bedingungen und setzen trotzdem nahezu jede Innovation aus der Forschung, jedes noch so sinnlose Förderprogramm um. Sie quälen sich mit Bildungsplänen für Kindergartenkinder, die mitunter umfangreicher sind als alle Lehrpläne des gesamten Primarbereichs zusammen. Hilfen zur Umsetzung bestehen häufig lediglich aus Kopiervorlagen und Checklisten.
Unter enormen Belastungen haben Erzieherinnen Unmögliches möglich gemacht. Und nun? Wer kämpft für mehr Geld, mehr Personal? Wer diskutiert mit ihnen, statt über sie?
Die Konsequenz heißt: Mehr Respekt vor der Arbeit der frühpädagogischen Fachkräfte. Erzieherinnen sind jetzt schon Begleiterinnen frühkindlicher Bildungsprozesse, Sozialpolitikerinnen, Integrationsfachkräfte, Partizipationsstrateginnen, Medienexpertinnen, Bedarfsplanerinnen, Konzeptionsentwicklerinnen, Familienexpertinnen, Netzwerkmanagerinnen und Genderexpertinnen. Was sie schaffen, das gehört zu den komplexesten Aufgaben der Humandienstleistung: Bildung, Betreuung und Erziehung unter dem Druck der Forderungen von Familienpolitik, Sozialpolitik und Bildungspolitik unter einen Hut zu bringen. Kein anderer Sozial- und Bildungsberuf ist dermaßen gefordert.
Eines steht fest: Die (neuen) Professorinnen der frühpädagogischen Studiengänge haben ihren Beweis der besseren Qualifizierung des Personals in Kindertageseinrichtungen noch lange nicht erbracht. Und es ist mehr als unprofessionell, das Kompetenzkapital der Erzieherinnen durch Nichtbeteiligung am Reformprozess zu ignorieren.
Kein Bedarf in der Praxis
Über die Anhebung der Erzieherinnenausbildung herrscht gesellschaftlicher, politischer und fachwissenschaftlicher Konsens – alle wollen die Akademisierung der Ausbildung. Dies ist der dritte Irrtum, denn bisher ist völlig ungeklärt, ob es überhaupt einen Bedarf gibt und bei wem. Bisher hat kein Träger den Bedarf einer Fachhochschulausbildung für Erzieherinnen offen deklariert.
Wohlgemerkt: Dies ist nicht mit der Forderung nach Professionalisierung des Erzieherinnenberufs zu verwechseln. Sie ist notwendig und kann auch an Fachschulen gelingen. Das wird bei der Betrachtung der zentralen Merkmale eines Hochschulstudiums deutlich. Mindestens zwei Kernmerkmale, nämlich die Hochschulreife als Zugangsvoraussetzung und die Erhöhung der Selbststudienanteile, können an Fachschulen realisiert werden.
Weiterhin ist nicht geklärt, wo die BA-Frühpädagoginnen eingesetzt werden und welche Aufgaben sie in einer Einrichtung der Kinder- und Jugendhilfe übernehmen sollen. Darüber hinaus sind keine Angaben oder Vorstellungen über ihre Bezahlung bekannt. In welche Entgeltgruppe sollen Absolventen und Absolventinnen eingestuft werden? Soll eine neue Ebene zwischen den Tarifen für Erzieherinnen und Diplom-Sozialpädagogen, die in der Regel die Leitung übernehmen, eingeführt werden? Und wer zahlt?
Analysiert man den Stellenmarkt für Bachelor-Absolventinnen in der Fachpresse und im Internet für den Bereich Frühpädagogik, ist kein Bedarf erkennbar.3 Die geforderte Anhebung der Vergütung ist offensichtlich obsolet geworden.
Warum werden die Träger nicht gefragt? Sie sollen die Absolventinnen doch einstellen und ihnen Arbeitsbedingungen bieten, die sich an den im Studium vermittelten Inhalten orientieren. Wo gibt es eine Stellenbeschreibung für den BA Frühpädagogik, die die Aufgaben dezidiert beschreibt und eine tariflich festgelegte Vergütung vorsieht? Darüber findet man nirgends eine Aussage, was die Notwendigkeit dieser Ausbildung für die Praxis im Bereich der Kinder- und Jugendhilfe mehr als fragwürdig erscheinen lässt. Auch die Erzieherinnen stimmen der Ausbildung auf Hochschulniveau erkennbar nicht zu, wie eine Studie der GEW feststellt. Die Befragten schätzen die Fachschulausbildung aufgrund der gelungenen Verknüpfung von Theorie und Praxis. Sie sind der Ansicht, dass die Vielzahl an Fortbildungsangeboten ein Studium obsolet werden lässt. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt die Umfrage des Deutschen Berufsverbandes für Soziale Arbeit e.V. auf dem Jugendhilfetag 2008: Nahezu drei Viertel der befragten Fachkräfte sehen keinen Akademisierungsbedarf für die Arbeit im Gruppendienst von Kindertageseinrichtungen.
Kontakt
www.kobbeloer.de
www.fruehpaedagogik-studieren.de
Diese Website enthält eine Übersicht aller frühpädagogischen Studiengänge in ganz Deutschland. Das Portal bietet Ihnen einen aktuellen Stellenmarkt, Informationen über Veranstaltungen und Literaturtipps aus dem Bereich der Frühpädagogik, siehe S. 22f in diesem Heft.
www.wiff.de
Das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) und die Robert Bosch Stiftung riefen die »Weiterbildungsinitiative Frühpädagogische Fachkräfte (WiFF)« ins Leben. Das Deutsche Jugendinstitut (DJI) zeichnet für die fachliche Konzeption und Umsetzung verantwortlich und wird die Initiative wissenschaftlich begleiten. Mit dem auf fünf Jahre angelegten Projekt wollen die Partner aus Politik, Zivilgesellschaft und Wissenschaft im Dialog mit vielen Kooperationspartnern Qualität, Transparenz und Durchlässigkeit des frühpädagogischen Weiterbildungssystems für die heute pädagogisch Tätigen verbessern.
www.weiterbildung-luebeck.de
Das Weiterbildungsnetzwerk in Lübeck. Im September 1998 wurde der Verbund Weiterbildung in Lübeck gegründet. Bis heute schlossen sich mehr als 80 Weiterbildungsträger dem Verbund an – ein Beispiel für funktionierende Netzwerkstrukturen ehemaliger Konkurrenten.
www.boefae.de
Die Bundesarbeitsgemeinschaft der öffentlichen und freien, nicht konfessionell gebundenen Ausbildungsstätten für Erzieherinnen und Erzieher.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 03/10 lesen.