Ein musikalisches Spiel- und Lernangebot gehört zum Grundrecht auf Bildung für jedes Kind, ganz gleich wie klein es noch ist, welcher sozialen Schicht oder Nationalität es entstammt. Ein Beitrag von Dorothée Kreusch-Jacob.
Nicht von ungefähr befassen sich Neurologen, Kognitions- und Bildungsforscher, Psychologen und Therapeuten zunehmend und intensiv mit frühkindlicher musikalischer Förderung. »Intelligent durch Musik« oder »Musik macht klug« – mit diesen Aussagen hat die Diskussion um die Musikerziehung von Kleinkindern in den letzten Jahren immer stärkeres Interesse nicht mehr nur in Fachkreisen, sondern auch in der bildungspolitischen Diskussion gefunden. Wir wissen heute wie Kinder auf Musik reagieren und welche Wirkung sie auf sie hat.
Schon die kleinsten Babys werden von ihrer Wirkung tief berührt und ganz unmittelbar in ihrer Lebendigkeit und Lebensfreude angesprochen. Spontan und sichtbar begeistert reagieren sie auf Musik, mit der Stimme und mit dem ganzen Körper. Musikalische Impulse können somit auf lustvolle Weise die gewaltigen Lernprozesse in dieser frühen Phase unterstützen und auf die kognitive, psychomotorische, sprachliche, emotionale und soziale Entwicklung von Kleinkindern positiv einwirken.
Hirnforscher sprechen von einer intensiven Transferleistung des Musizierens zwischen Gefühlswelt und abstraktem Denken bzw. dem Verarbeiten von Informationen. Frühe Begegnungen mit Musik sensibilisieren Sinne und Wahrnehmungsvermögen, fördern Fantasie und kreatives Potential. Darüber hinaus gibt das Spiel mit Musik Kindern Selbstbestätigung durch aktives schöpferisches Tun. Es macht sie einfühlsamer, erlebnisfähiger, toleranter, kommunikativer und ausgeglichener. Spannungen und Ängste können sich lösen.
Musikalische Erziehung ist im Sinne einer ganzheitlichen Erziehung und Förderung eine Notwendigkeit und Chance für jedes Kind. Denn über Musik lassen sich auch alle anderen Bildungsbereiche erreichen, wie Sprachentwicklung, allgemeine Ausdrucksfähigkeit, Körperbewusstsein, Motorik, erste akustisch-physikalische Erfahrungen, Tanzen, Singen, bildnerisches Gestalten...
»Musik bildet«, so der Dirigent Daniel Barenboim. Deshalb sollte jedes Kind, ohne Einschränkung auf etwaige spezielle »Begabung« schon früh in den Genuss einer intensiven musikalischen Förderung kommen. Schon für die Kleinsten bietet sich dafür in der Krippe eine Fülle von Möglichkeiten. Ein musikalisches Spiel- und Lernangebot gehört deshalb zum Grundrecht auf Bildung für jedes Kind, ganz gleich wie klein es noch ist, welcher sozialen Schicht oder Nationalität es entstammt.
Musikerleben beginnt vor der Geburt
Der Verhaltensforscher Konrad Lorenz begann bereits mit Entenküken zu »reden«, als diese noch nicht aus dem Ei geschlüpft waren. Später erkannten sie ihn an der Stimme und folgten ihm auf Schritt und Tritt. Auf die gleiche Weise lernen kleine Singvögel ihre Lieder durch die Eierschale kennen.
Auch Kinder genießen – lange bevor sie geboren werden – eine Klangerziehung im Mutterleib. Zu ihren ersten Höreindrücken zählen die Melodie der mütterlichen Stimme, ihr Herzrhythmus, Körpergeräusche und musikalische Impulse aus der Außenwelt. Diese verbinden sich aufs Engste mit weiteren Sinneserfahrungen. So hört und spürt das Ungeborene gleichzeitig mit dem ganzen Körper Klangschwingungen und Vibrationen, erlebt Bewegung und Schaukeln und ist darüber hinaus auch mit der emotionalen Gestimmtheit der Mutter verbunden. Ihrem psychischen Zustand entsprechend verändert sich der Klang ihrer Stimme, ihr Herzschlag und Atem. Das bedeutet, dass das vorgeburtliche Hören immer über mehrere Sinne erfolgt und über diese Verschaltungsmuster als eine Gesamterfahrung im Gehirn verankert wird. Sinnliche Wahrnehmung – so die Hirnforschung – muss mit anderen Erfahrungen gekoppelt und verknüpft sein, die im gleichen Kontext gemacht wurden. Und das bereits während der vorgeburtlichen Entwicklung, wenn die betreffenden Netzwerke nutzungsabhängig herausgeformt werden (Prof. Dr. Gerald Hüther)
Das Ungeborene eignet sich auf diese Weise Erinnerungsbilder (engrammatisch) an, hört also in einem weiteren Sinn. Es horcht auf den »Klang des Lebens«, spürt Zuneigung und Liebe. Das Hören oder Spielen mit Musik wird es auch nach der Geburt an diese ersten Erfahrungen im Klangraum Mutterleib erinnern.
Jedes Kind ist musikalisch
Die vorgeburtlichen »Kopplungsphänomene« sinnlicher Wahrnehmungen schlagen sich später nach der Geburt vielfältig in der Vernetzung und Feinverschaltung des kindlichen Gehirns nieder. Die Zeitfenster stehen weit offen, um Informationen aufzunehmen und zu verarbeiten. Das gilt auch für das Erleben von Musik. Hier verbinden sich aufs Engste Sprache und Gesang mit gleichzeitig ausgelösten Erfahrungen wie Berühren und Streicheln, Bewegen, Schaukeln und Wiegen.
Wenn wir also ganz selbstverständlich Musik als Sprache der Sinne in den Alltag mit Kindern hineinnehmen, werden wir kaum mehr zwischen »musikalischen« und scheinbar »unmusikalischen« Kindern unterscheiden können. Musikalität bedeutet im Grunde nichts anderes, als offen sein für alles, was klingt; nichts anderes, als sich von Musik berühren zu lassen, sich die eigene musikalische Sprache und die gewachsene Sprache unserer Kultur Schritt für Schritt zu erobern.
Welches Kind hätte diese ihm angeborene Gabe nicht (music aptitude)? Spielerisch und voller Neugier erweitert es im Laufe der Zeit allmählich seine musikalischen Möglichkeiten und Fähigkeiten (music achievement) und entwickelt das weiter, was bereits in ihm angelegt ist, so der Musikpsychologe und -pädagoge E. Gordon.