Während eines Besuchs in Reggio im Mai 2008 schrieb Hildegard Wies einer Kollegin, was sie erlebte, dachte und der Daheimgebliebenen mitteilen wollte. Eine Art Reisedokumentation – mit Rückblicken auf die eigene Entwicklung.
Liebe Corrina,
jeden Morgen frühstückten wir bei Anna im agritorismo. Köstlich! Alle Zutaten stammten aus der Eigenproduktion des Hofs.
Beim ersten Frühstück am Sonntag wehten von draußen Melodien zu uns in den Raum. Karola stand auf, um besser aus dem Fenster sehen zu können. Sie entdeckte zwei Musiker, einer mit Violine und einer mit Bassgeige, in ländlicher Kleidung unter dem Vordach neben dem Haus. Verwunderung bei uns und Fragen an Anna, die Wirtin.
In weniger als einer halben Stunde sollte es ein vorbereitetes Programm für Familien mit Kindern geben. Großeltern und Verwandte gehören in Reggio dazu. Wir erfuhren, dass die Veranstaltung Teil eines offiziellen Programms der Kommune war. Die Beobachtung, dass auch in Reggio immer mehr Familien die Fast Food Küche bevorzugen und die damit einhergehenden negativen Folgen auffallen, machte die Verantwortlichen nachdenklich. Außerdem bemerkten die Pädagogen, dass viele Kinder nicht mehr wissen, woher die Nahrungsmittel stammen. Das Fleisch welcher Tiere kommt auf den Tisch? Was fressen sie? Wie und wo leben sie? Wo wachsen Obst, Gemüse und Getreide? Wie werden köstliche Speisen daraus?
Das Verbindende der großen Kultur des Essens und Trinkens und des gemeinsamen Kochens scheint auch in dieser Region mehr und mehr an Bedeutung zu verlieren. Deshalb rief die Kommune mit Pädagogen und Sozialarbeitern ein besonderes Projekt ins Leben. Unsere Gastgeberin Anna war mit ihrem Hof an diesem Projekt beteiligt. Wir fanden das so spannend, dass wir den berühmten Remida Day in der Stadt Reggio vergaßen und neugierig auf den Hof gingen. Familien spazierten gelassen vorüber. Unter einem kleinen Kiosk aus Holz war ein Tisch mit Bilderbüchern und Fachbüchern aufgebaut. Themen waren das Leben auf dem Land, Rezepte, Anbau und Vermarktung von Feldfrüchten sowie Informationen zur Tierhaltung. Einige einfache Klanginstrumente beschäftigten die ganz kleinen Kinder, so dass alle in Ruhe die Bücher anschauen konnten.
Dann sahen wir eine Schauspielerin, die in Bauernkleidung auftrat, begleitet von einem Schauspieler. Beide gingen umher und stellten sich hier und da vor: Monica und Bernardino. Während Monica herumschlenderte, sang oder summte sie bekannte Melodien und lächelte den Kindern zu. Ein Junge mit einem großen Strohhut unterhielt sich hier und da mit einigen Kindern. Mit ihrer Freundlichkeit lockte Monica die Kinder an. Sie wurden neugierig und suchten ihre Nähe, zuerst vorsichtig und dann immer mutiger. Schließlich kam Monica, leise singend, unter dem Vordach neben dem Bauernhaus an, wo die Musiker warteten. Sehr bald saßen einige Kinder vorn auf Stühlen und Bänken, auch die Erwachsenen nahmen Platz. Der Junge mit dem Strohhut ging umher und lud die restlichen Kinder ein, mitzukommen. Die Musiker spielten inzwischen einfache Melodien auf ihren Instrumenten.
Auf einmal wurde es ruhig, alle waren angekommen. Die Kinder und ihre Familien wurden von Monica, Bernardino und den Musikern begrüßt. Allein diese Szenen des Sich-Einfindens unter dem gemeinsamen Dach, die Ruhe, die Einfachheit, die Freundlichkeit, die völlige Abwesenheit hektischer Betriebsamkeit, lauten Geschreis oder lästiger Ermahnungen – fantastisch! Die Kinder und ihre Familien konnten sich auf die neue Umgebung einstimmen, hatten sich ein wenig bekannt gemacht, fühlten die entspannte und freundliche Atmosphäre und konnten sich auf etwas Neues einlassen. Der Boden für die Saat – nämlich neue Erfahrungen und Wissen – war mit Freundlichkeit, Herzlichkeit und großer Zugewandtheit bereitet.
Du musst bedenken, wir verstanden kein Wort! Trotzdem waren wir so beeindruckt, dass wir unbedingt dabei sein wollten, um zu sehen, was geschehen würde.
Es begann mit einem Märchen, das Monica sehr lebhaft und ausdrucksstark erzählte, untermalt und ergänzt vom Spiel der Musiker. Das Märchen war abwechselnd spannend und fröhlich, dann wieder traurig. All das konnten wir in den Gesichtern der Kinder lesen. Monica baute die Geschichte so auf, dass viele Wiederholungen darin vorkamen. Unwillkürlich sprachen die Kinder mit, wiederholen die Wörter und Gesten erst zögerlich, dann immer sicherer.
Schließlich vergaß Monica doch tatsächlich, wie es weitergehen musste, und die Kinder halfen ihr, die Geschichte richtig zusammenzubringen. Das war so spannend und vergnüglich, dass die Kinder gefesselt waren und konzentriert mitmachten. Am Ende atmeten sie auf und schauten sich zufrieden lächelnd nach ihren Eltern um. Wir hörten genauso gebannt zu wie die Kinder und ihre Familien. Später erfuhren wir, dass es sich um ein Märchen gehandelt hatte, das einige von uns kannten, nämlich »Zucker und Salz«.
Als das Märchen erzählt war, folgten wir wie die Familien den Schauspielern und den Musikanten über den Bauernhof, die angrenzenden Felder und in die Stallungen. Monica und Bernardino fanden interessante Orte, an denen sie den Kindern immer wieder Geschichten erzählten: beim Gänsestall, am Erdbeerfeld und bei den Rebstöcken. Dort, wo die Tiere wohnten, Herr und Frau Gans beispielsweise oder die Schweinefamilie, sahen wir Schilder, auf denen sie abgebildet waren. Direkt daneben standen, in schöner Schrift, die Namen der Tiere. So einfach und so wunderbar: das lebendige Tier zum Sehen, Riechen und Anfassen, dann ein Symbol für das Tier, nämlich die Zeichnung, und als nächster Schritt die Schrift. Bernardino kletterte in einen Apfelbaum und schaute zwischen den Zweigen hindurch. Während er erzählte, ließen die Kinder ihn nicht aus den Augen.
Beim Feigenbaum breitete Monica für die Kinder eine Decke aus, damit sie sich vom Stehen und Gehen ausruhen konnten. Bei den Himbeeren wurde die Decke wieder gebraucht. Eltern und Verwandte waren immer dabei, achteten darauf, dass es den Kindern gut ging und dass sie sich geborgen fühlten. Uns fiel auf, dass die Eltern keine Seitengespräche führten, dass die Väter sich liebevoll um die Kinder kümmerten und dass Bedürfnisse der Kinder gelassen befriedigt wurden. Gespräche mit den Kindern wurden leise geführt, um die anderen nicht zu stören.
Nachdem sie die Kühe im Stall angeschaut, berührt und den typischen Stallgeruch geschnüffelt hatten, setzten sich die Kinder im Kreis auf Strohballen. Obwohl ein alter Bauernwagen in der Nähe stand und mit einem vorbereiteten Imbiss lockte, blieben die Kinder bei der Erzählerin sitzen und hörten zu. Danach wurde in aller Ruhe geknabbert, gekostet und geschmeckt. Ein Fest für die Sinne! Die Wanderung zurück zum Hofgebäude wurde durch einen Halt bei den Kirschbäumen und im Gemüsegarten unterbrochen. Zum Schluss besuchten die Kinder die Schweine am Schweinehaus...
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 12/08 lesen.