Ilse Wehrmann fordert beim Aufbau der frühkindlichen Bildungsangebote für unter Dreijährige eine Qualitätsoffensive.
Eigentlich haben wir keine Zeit zu verlieren, doch wir tun uns schwer in Deutschland. Zu schwer: Zwischen dem, was sich Eltern wünschen und von der Politik mit Recht erwarten, und dem, was sich real im Bereich frühkindlicher Bildung, Erziehung, Förderung und Betreuung tut, klafft eine leider noch immer viel zu große Lücke: Gerade einmal acht Prozent der Kinder unter drei Jahren haben in Westdeutschland einen Krippenplatz – über den sich Eltern fast freuen, wie über einen Lottogewinn. Von einer flexiblen und familienfreundlichen Angebotssituation sind wir noch meilenweit entfernt.
Wovon Eltern träumen
Doch was erwarten Eltern von Kinderbetreuungseinrichtungen, insbesondere die Eltern unter Dreijähriger, die noch auf keinen Kita-Platz zurückgreifen können? – Zur Beantwortung dieser Frage führten das Forsa Institut, die Bertelsmann Stiftung und der Deutsche Industrie- und Handelskammertag (DIHK) Meinungsumfragen durch. Sie wollten wissen, wie zufrieden Eltern mit der Kinderbetreuung sind.
Das Ergebnis: etwa zwei Drittel der Befragten
- beklagen, dass es zu wenig Betreuungsangebote für Kinder unter drei Jahren gibt,
- wünschen flexiblere Öffnungs- und Betreuungszeiten, insbesondere längere und an die Arbeitszeiten angepasste Betreuungszeiten,
- halten die derzeitigen öffentlichen Angebote der Förderung von Kindern zwischen null und sechs Jahren für unzureichend,
- befürworten einen bundesweit verbindlichen Rechtsanspruch auf Bildungs- und Betreuungsangebote auch für Kinder unter drei Jahren – unabhängig von deren Herkunft, von der Familiensituation und vom sozialen Status ihrer Eltern.
Über 80 Prozent der Befragten waren übrigens der Meinung, dass im Krippenbereich nicht nur der Umfang und Preis, sondern vor allem die Qualität des Angebots eine wichtige Rolle spielt.
Was wirklich passiert
Die Wünsche an die Kinderbetreuung werden umso verständlicher, betrachtet man die Erwerbssituation von Müttern und Vätern etwas genauer. Die Erwerbsquote bei Müttern ist im Zeitraum von 1996 bis 2004 um sechs Prozent auf 61 Prozent gestiegen, wobei im Westen die Teilzeit-, im Osten die Vollzeitarbeit dominiert. Im Westen wollen knapp 70 Prozent der nicht erwerbstätigen Mütter mit Kindern bis zu zwölf Jahren einen Beruf ausüben, im Osten sogar zirka 90 Prozent.
Dieser Wunsch ist nachvollziehbar angesichts der Tatsache, dass ein Erwerbseinkommen heutzutage in der Regel nicht mehr ausreicht, um eine Familie zu finanzieren. Statistisch betrachtet erwirtschaftet in Deutschland in Familien mit zwei berufstätigen Elternteilen die Frau zirka 35 Prozent des Familieneinkommens. Die wenigsten Familien können auf dieses Geld verzichten. Im Gegenteil: Nach einer Erhebung des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2005 würden rund 36 Prozent der erwerbstätigen Mütter in Westdeutschland, deren Kinder in Kindergärten nur halbtags betreut werden, ihre Arbeitszeit bei längerer Betreuungszeit gerne ausdehnen.
Unsere Gesellschaft leistet sich noch immer den bildungspolitischen wie volkswirtschaftlichen Unsinn, junge Menschen – in der Mehrzahl trifft es leider immer noch Frauen – zu qualifizieren und auszubilden, um ihre Berufskarriere mit der Geburt des ersten Kindes abrupt abreißen zu lassen. Die Betreuungszeiten und Platzkapazitäten sind keinesfalls am Bedarf von Familien orientiert, sondern lassen mehr als zu wünschen übrig. Wertvolle berufliche Qualifikationen verfallen, insbesondere Mütter verlieren nach längerer Familienpause beruflich den Anschluss und müssen später deutlich unter ihrem eigentlichen Qualifikationsniveau liegende Stellenangebote annehmen oder sich mühsam erneut mit Kursen und Trainingsmaßnahmen auf einen beruflichen Neustart vorbereiten. Ohne ein flächendeckendes, hochflexibles, verlässliches und gut ausgestattetes Kita-System für alle 0- bis 6-Jährigen kann von wirklicher Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht die Rede sein.
Während politisch über das Krippenausbauprogramm und seine Finanzierung gestritten wird, flammt erneut die längst überholt geglaubte, hoch ideologisierte Diskussion darum auf, welche Erziehungs- und Betreuungsform besser ist. Da wird die »Rabenmütter«-Argumentation aus der Mottenkiste geholt (von Rabenvätern spricht interessanterweise niemand) und eine Herdprämie politisch durchzusetzen versucht.
Geplant ist lediglich, für etwa ein Drittel der in Frage kommenden Kinder unter drei Jahren einen Betreuungsplatz anbieten zu können. Angesichts dieser Zahl von einem »Krippenzwang« zu sprechen, ist an Zynismus nicht zu überbieten und ignoriert die Lebenswirklichkeit der allermeisten Familien völlig. Etwas mehr Wahlfreiheit zu ermöglichen, hat nichts mit einem Zwang zur Fremdbetreuung zu tun. Nach wie vor entscheiden auch künftig allein die Eltern, ob sie ihre Kinder unter drei Jahren zu Hause oder in einer öffentlichen Einrichtung betreuen lassen.
Es bedarf offensichtlich noch großer gesellschaftlicher Überzeugungsarbeit, ehe in Deutschland mehrheitlich akzeptiert werden wird, dass Mütter wie Väter sich frei für Beruf und Familie entscheiden dürfen, ohne gleich in die Ecke von Rabeneltern gerückt zu werden.
Die frühkindliche Bindungsforschung hat längst gezeigt, dass stabile Beziehungen für Kinder zwar sehr wichtig sind. Doch das bedeutet keinesfalls, dass allein die Mutter 24 Stunden an sieben Tagen in der Woche beim Kind sein muss. Kinder brauchen Kinder, und auch andere Erwachsene, zu denen sie Vertrauen aufbauen können. Da es heute kaum noch Großfamilien gibt, in der dieser vielfältige Austausch mit unterschiedlichen Bezugspersonen stattfindet, ist die Krippengruppe in mancher Hinsicht der geeignetere Ort für das Aufwachsen von Kindern. Soziales und kommunikatives Lernen ist hier oftmals eher möglich, als in der Kleinfamilie, teils auch noch ohne Geschwisterkinder. Für soziale Brennpunktstadtteile oder »Problemfamilien« gilt sogar: Hier sind Kinder meist besser in der Krippe oder Kita aufgehoben, als in einem anregungsarmen häuslichen Umfeld. Wer einmal das Miteinander von kleinen Kindern in einer Krippe beobachtet hat, gelangt zwangsläufig zu der Erkenntnis, dass sie dort kommunikative und soziale Kompetenzen weitaus schneller und früher erlernen als es im häuslichen Familienkontext je möglich wäre. Bedenkt man, dass viele Kinder ohne Geschwister oder in einem anregungsarmen Umfeld aufwachsen, so ist die Krippenbetreuung für ihre Entwicklung schlicht die bessere Lösung. Das ist natürlich auch eine Qualitätsfrage: Gruppengröße, Betreuungsschlüssel und Ausstattung der Lernumgebung müssen stimmen.
Doch längst überholt geglaubte Denkmuster feiern fröhlich Urständ, während Eltern sich fragen, von welcher Lebenswirklichkeit die politisch Handelnden und Redenden eigentlich ausgehen. Sicherlich nicht von der junger Familien, die mit Recht erwarten, dass ihre Probleme wahrgenommen und perspektivisch auch gelöst werden: Deutschland muss wieder ein kinderfreundliches Land werden, in dem sich Menschen für Kinder entscheiden, weil Kinder ein Zugewinn an Lebensglück, -erfahrungen und Lebensqualität sind: Eine Bereicherung und kein Hemmschuh. Solange Vereinbarkeit von Beruf und Familie für viele junge Paare ein Wunschtraum ist, bleibt für Familien- und Kinderpolitik noch viel zu tun.
Deutschland tut sich angesichts dieser Aufgabe schwer: Das Krippenausbauprogramm ist zwar auf den Weg gebracht, doch schon scheren einzelne Länder aus und nehmen ihre eigenen Interpretationen über die Verteilung und Beteiligung an der Finanzierung vor: Es ist fahrlässig, Zweijährige in reguläre Kita-Gruppen zu stecken, ohne das Personal auszuweiten und weiterzuqualifizieren. Diese Praxis zeichnet sich beispielsweise in Nordrhein-Westfalen oder Rheinland-Pfalz ab. Wer Kinder wirklich früh fördern will, muss den speziellen entwicklungspsychologischen Erfordernissen unter Dreijähriger Rechnung tragen. Das geschieht nicht dadurch, dass man sie einfach in vorhandene Kita-Gruppen steckt, um sich des Rechtsanspruchs politisch zu entledigen.
Von einem Konsens und einheitlichen politischen wie finanziellen Rahmenbedingungen sind wir angesichts der föderalen Hindernisse weit entfernt. Frühkindliche Bildung, auch die ganz frühe für unter Dreijährige, hängt hierzulande noch immer von der kommunalen Kassenlage und der Einsichtsfähigkeit von Bürgermeistern und Kommunalpolitik ab. Mit dieser Struktur, mit föderalen und der kommunalen Schranken im Weg, lässt sich die dringend nötige Bildungsoffensive kaum widerstandsfrei und in der nötigen Geschwindigkeit auf den Weg bringen.
Zum Nach- und Weiterlesen:
Deutschlands Zukunft: Bildung von Anfang an
Uns fehlt die Liebe zu Kindern, sonst würden wir ihnen unabhängig von ihrer sozialen Herkunft gleiche, gerechte Bildungschancen eröffnen. Doch Bildung hängt in einem der reichsten Länder der Erde nach wie vor vom Geldbeutel und Bildungsstand der Eltern ab, die oft überfordert sind – aber auch allein gelassen werden.
Über die Startchancen unserer Kinder entscheiden leere kommunale Kassen, manchmal uneinsichtige Bürgermeister, zähe Kita-Trägerstrukturen und Länderzuständigkeiten, die einem Flickenteppich gleichen. Ohne einheitliche Qualitätsstandards, Kinderrechte im Grundgesetz und eine bundesweit verbindliche Kita-Finanzausstattung zementieren wir die Bildungsungerechtigkeit weiter.
Dieses Reformbuch entwirft einen Marshallplan für die nächsten zehn Jahre, wie sich die Mammutaufgabe in einem gesamtgesellschaftlichen Kraftakt lösen lässt: Kitas benötigen eine Qualitätsoffensive, frühkindliche Bildung muss auf internationalem Niveau finanziert werden, Frühpädagogen brauchen eine höhere Qualifizierung und bessere Rahmenbedingungen.
Ilse Wehrmann:
Deutschlands Zukunft:
Bildung von Anfang an
Verlag das netz, Weimar · Berlin 2008
ISBN 978-3-937785-69-1
208 Seiten
Euro 12,90
►Im BetrifftKinderShop bestellen
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 06-07/08 lesen.