Heute zum Aktionspreis: Werte
Sozusagen über alles, hauptsächlich aber über Entschleunigung, Persönlichkeitsentwicklung, Aus- und Weiterbildung, Arbeitskämpfe und das »Bündnis für Erziehung« sprach »Betrifft KINDER« mit Norbert Hocke, Mitglied im Geschäftsführenden Bundesvorstand der GEW und Sprecher des »Bundesforums Familie«.
Nie zuvor hat das Thema »Bildung und Erziehung« in den Medien eine derartig raumgreifende Rolle gespielt...
Norbert Hocke: Wenn man in den letzten Jahren als Außerirdischer auf die deutschen Kitas geguckt hätte, würde man staunen, was dem System der Tageseinrichtungen für Kinder angetragen wurde: Mit den neuen Steuerungsmodellen ging es los. Alle Teams mussten Haus-Konzeptionen erarbeiten, Produktkataloge zusammenstellen. Dann kam die Qualitätsdebatte – Qualitätshandbücher wurden entwickelt. Es folgten die Nationale Qualitätsoffensive und die Diskussion zum Übergang vom Kindergarten in die Grundschule. Nicht zu vergessen: die Anpassungslehrgänge für die Kolleginnen und Kollegen aus dem Osten des Landes. Der Bildungsgedanke wurde neu gedacht, Beobachten und Dokumentieren kam auf, ein neues KIG*, TAG* und KEG*.
Wie bitte?
Norbert Hocke: Egal. Langsam muss man mal durchatmen.
Was auf die Kolleginnen und Kollegen in den letzten Jahren einstürmte, ist 20 Jahren versäumter Entwicklung geschuldet. Zu glauben, dass man dies in ein paar Jahren nachholen könnte – welch ein Irrtum!
Zwar kann man sagen: Toll, was so alles passiert! Aber wenn man realistisch ist und die Szene seit 25 Jahren kennt, kann einem nur schwindlig werden. Ich warte darauf, dass die Kolleginnen und Kollegen sagen: Stop! Jetzt gucken wir mal, was in unseren Häusern los ist und was wir aus diesem Supermarkt der Bildungsangebote tatsächlich gebrauchen können.
Was wird Ihrer Meinung nach jetzt am nötigsten gebraucht?
Norbert Hocke: Entschleunigung. Zeit und Muße. Gerade, weil neue Projekte schon vor der Tür stehen: Familienhäuser, Mehrgenerationenhäuser und das Haus der Bildung von Drei bis Zehn, das Frau Schavan favorisiert.
Man muss sich mal vorstellen: Eine Kita, die sich darum bemüht, die Bildungs- und Erziehungspläne umzusetzen, und sich zusätzlich in ein Mehrgenerationenhaus verwandelt – da kommt Frau Schavan des Wegs und sagt: Schön, die Sache mit den Generationen, aber jetzt setzen wir die Alten wieder vor die Tür und holen die Grundschule herein, denn wir brauchen Bildungshäuser.
Wer soll denn das verkraften?! Ich kann mir niemand vor-stellen. Deshalb brauchen wir einen Stop, eine Entschleunigung, damit die Teams vor Ort überlegen können, was ihre Kinder benötigen, und sich mit den Eltern in Ruhe über die Umsetzung der Bildungs- und Erziehungspläne verständigen können.
Vor lauter Hast haben wir nämlich den Kern unserer Arbeit schon fast vergessen, den Paragraf 1 des KJHG: Jedes Kind hat ein Recht auf Erziehung und Bildung zu einer eigenständigen und gemeinschaftsfähigen Persönlichkeit. Persönlichkeit wird zur Zeit aber stark auf Schulfähigkeit reduziert.
Sie meinen, Bildung geht zu Lasten von Erziehung, die ihrerseits bitter Not tut?
Norbert Hocke: Bildung geht dann zu Lasten von Erziehung, wenn wir einen eng gefassten, nur kognitiv verstandenen Bildungsbegriff zugrunde legen. Ja, die Persönlichkeit eines Kindes wird zur Zeit sehr auf Schulvorbereitung und Spracherwerb reduziert. Doch Persönlichkeit ist auch Kreativität, Musik, Kunst, Sport... Diese Aspekte sind in den Bildungsplänen vorhanden und werden von den Kita-Teams in den Alltag eingebracht. Aber wenn man genau hinguckt, merkt man, dass nicht viel Zeit dafür bleibt. Schaue ich mir die Sprachtests oder Sprachlerntagebücher an, die externen Sprachkurse, die Kinder in Hannover und Baden-Württemberg absolvieren müssen – da bleibt für den Kita-Alltag, der ja in der Regel immer noch von 9.00 bis 12.00 Uhr stattfindet, relativ wenig Zeit, um den Kindern zu ermöglichen, Persönlichkeit in einem ganzheitlichen Sinne zu entwickeln.
Zwar versuchen die Kolleginnen und Kollegen vor Ort, gegen die politischen Wirrsale zu steuern, aber wenn ich in Hamburg sehe, dass sie – angesichts des Gutscheinsystems – Angebote in vier oder sechs Stunden pressen, von denen die Kinder, die zur Logopädie oder anderswohin müssen, gar nichts haben... Ein Alltag von morgens bis nachmittags, mit geregelten Mahlzeiten und verlässlichen Angeboten, lässt sich kaum noch gestalten. Deshalb finde ich die gegenwärtige Reduktion auf Schulfähigkeit und Sprache sehr gefährlich.
Je stärker die Kita-Teams verpflichtet werden, Schulfähigkeit in den Vordergrund zu stellen – die Arbeitgeberorganisationen (BDA) haben das kürzlich in ihrer Stellungnahme auch wieder gefordert: Aufgabe des Kindergartens sei es, Schulfähigkeit herzustellen –, desto stärker tritt die Persönlichkeitsentwicklung der Kinder in den Hintergrund.
Leider ist noch nicht in allen Schulverwaltungen angekommen, dass die Bildungspläne für die Kindergärten eine gute Grundlage für Persönlichkeitsentwicklung bieten. Die Chance der Zusammenarbeit zwischen Kindergarten und Grundschule wird den Kindern nur dann etwas bringen, wenn der ganzheitliche Bildungsbegriff die Ausgangsbasis der Zusammenarbeit ist.
Den vollständigen Beitrag können Sie in unserer Ausgabe Betrifft KINDER 10/06 lesen.